Vor 74 Jahren fanden die ersten DDR-Volkskammerwahlen statt. Der junge Hermann Flade störte sich an den Scheinwahlen — und protestierte dagegen. Das SED-Regime statuierte ein Exempel an ihm: Für das Verteilen von Flugblättern wurde er zum Tode verurteilt. Laute Proteste zwangen die DDR-Führung, das Urteil in eine langjährige Haftstrafe umzuwandeln.
Der 14. Oktober 1950: Am Vorabend der ersten DDR-Volkskammerwahlen verteilt der 18-jährige Hermann Flade Flugblätter im sächsischen Olbernhau. Er will gegen die Scheinwahlen protestieren.
Unterwegs läuft er an einem Pärchen vorbei. Als er den Großteil seiner Zettel verteilt hat, begegnet er den beiden erneut. Sie geben sich als Angehörige der Volkspolizei zu erkennen.
Hermann weiß, dass sie ihn beobachtet haben. Im entstehenden Handgemenge zückt er ein Taschenmesser. Er verletzt eine der beiden Personen leicht und kann entkommen — vorerst.
Hermann Flade wurde am 22. Mai 1932 in Würzburg geboren. Er wuchs in Olbernhau im Erzgebirge auf. 1944 trat er im Alter von zwölf Jahren aus dem nationalsozialistischen “Jungvolk” aus.
Am 7. Oktober 1949 wurde auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone die DDR gegründet. Die ersten “freien Wahlen” zur Volkskammer, dem Parlament der DDR, fanden am 15. Oktober 1950 statt.
Entgegen der Ankündigung waren die Wahlen alles andere als frei:
Alle Parteien wurden zu einer “Einheitsliste” der “Nationalen Front” zusammengefasst. Man konnte somit nicht zwischen verschiedenen Parteien entscheiden, sondern lediglich für oder gegen die Nationale Front stimmen.
Hermann beschloss, gegen diese Inszenierung zu protestieren. Mit einem Stempelkasten aus Kindheitstagen fertigte er dazu insgesamt rund 200 Flugblätter an:
„Im Oktober geschieht der unglaublichste Wahlbetrug nach sowjetischem Muster.“
„Das Sowjetregime wackelt mehr denn je. Habt Geduld!“
Am Vorabend der Wahlen zog er los. Er warf die Blätter in Briefkästen, durch offene Fenster und legte sie in Telefonzellen ab.
Als er von den als Paar getarnten Volkspolizisten auf frischer Tat ertappt wurde, konnte er zunächst fliehen. Doch kurz darauf wurde Hermann nach einer Großfahndung verhaftet.
Das SED-Regime plante, ein Exempel an ihm zu statuieren: Am 10. Januar 1951 wurde ein Schauprozess gegen Hermann Flade, einen “Feind der Demokratie und des Friedens”, eröffnet.
1.200 Menschen versammelten sich in dem zum Gerichtssaal umfunktionierten Ballsaal in Olbernhau. Über Lautsprecher wurde das Geschehen nach außen übertragen.
Doch Flade blieb von der großen Kulisse unbeeindruckt. Er bekannte sich zu seiner Kritik am Regime und den Scheinwahlen. Er erklärte:
“Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben.”
Lediglich den Einsatz seines Taschenmessers — ihm wurde vorgeworfen, den Polizisten, der nur leicht verletzt wurde, lebensbedrohlich verletzt zu haben — bereute er.
Schließlich verkündete der Richter das Urteil: Der 19-jährige Hermann Flade wurde zum Tode verurteilt.
Das Urteil sorgte für Entsetzen, in der Bundesrepublik wie in der DDR. Tausende versammelten sich in West-Berlin, um gegen das Strafmaß zu protestieren.
Und die Proteste zeigten Wirkung: Die SED-Führung sah sich gezwungen, das Urteil zu revidieren und wandelte es in eine 15-jährige Haftstrafe um.
Für Flade folgte eine fast zehn Jahre andauernde Odyssee durch diverse DDR-Gefängnisse. Er erkrankte an Tuberkulose und litt unter der Isolationshaft. Im November 1960 wurde er aus der Haft entlassen. In diesem kurzen Interview berichtet er aus dieser Zeit.
Nach der Freilassung siedelte Flade in die Bundesrepublik über und holte sein Abitur nach. Anschließend studierte er Politik und Philosophie und promovierte. 1966 heiratete er. Das Paar wurde Eltern dreier Kinder.
Jahrelang hielt Flade Vorträge und erzählte über seine Erlebnisse in der DDR. 1963 veröffentlichte er seine Autobiographie.
Hermann Flade starb kurz vor seinem 48. Geburtstag am 16. Mai 1980 an einem Schlaganfall, womöglich eine Spätfolge der miserablen Haftbedingungen.
2020 erschien eine Biographie.
Bis bald!
Leo
Mehr zum frühen Widerstand in der DDR:
Die wichtigsten für diesen Text verwendeten Quellen:
1. Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben, Bundeszentrale für politische Bildung
2. Für seine Flugblätter verhängte die DDR die Todesstrafe, Die WELT
3. “Deine Bombenruhe wird dir schon vergehen, wenn du vor dem Schafott stehst”, Spiegel Geschichte
Dies ist die 54. Ausgabe von Zeitsprung.
Ich freue mich jedes Wochenende auf Ihre interessanten Geschichten. Vielen Dank
Danke Leo für diese wahre Geschichte. Gut ist auch die implizite Kritik an der DDR.