Eine Gruppe mutiger Schüler aus Altenburg wehrte sich früh gegen das SED-Regime: Sie verteilten Flugblätter und störten mit einem selbstgebauten Radio eine Rede des DDR-Präsidenten, um auf die entstehende Diktatur aufmerksam zu machen. Hans-Joachim Näther bezahlte dafür mit seinem Leben. Seine drei Mitschüler erhielten jahrzehntelange Haftstrafen.
Hans-Joachim Näther wurde am 9. Dezember 1929 in Dresden geboren. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs besuchte er die Karl-Marx-Oberschule im thüringischen Altenburg. Dort lernte er Jörn-Ulrich Brödel, Gerhard Schmale und Ulf Uhlig kennen.
Die vier jungen Männer beobachteten die politischen Entwicklungen in der sowjetischen Besatzungszone. Beunruhigt verfolgten sie, wie nach der NS-Diktatur eine zweite Diktatur errichtet wurde. Im Gegensatz zu ihren Eltern während der NS-Zeit wollten sie sich für ein freiheitlicheres System einsetzen, wie sich Brödel später erinnerte:
“Wir haben nächtelang diskutiert und waren uns einig, dass wir etwas unternehmen mussten, sonst würden wir uns mitschuldig machen.“
Dieser erhaltene Briefausschnitt unterstreicht Achim Näthers Entschlossenheit. Mit den anderen begann er, Flugblätter zu verteilen. Weil sie keine Schreibmaschinen hatten, verteilten sie Zettel, auf denen ein einziger Buchstabe stand: “F“ – für Freiheit. In einer nächtlichen Aktion pinselten sie zudem metergroße “F“s an das Büro der Altenburger SED-Kreisleitung.
Um einen möglichst großen Teil der Bevölkerung über die neu entstehende Diktatur aufzuklären, entwickelten die vier Schüler einen riskanten Plan: Mit einem selbstgebauten Radiosender würden sie versuchen, die Ansprache von DDR-Präsident Wilhelm Pieck anlässlich des 70. Geburtstages des sowjetischen Diktators Josef Stalin zu stören.
Es folgten monatelange Vorbereitungen: Schmale besorgte Bestandteile alter Funkgeräte aus Flugzeugen. Ein abgesägter Telefonhörer fungierte als Mikrofon.
Am 20. Dezember 1949 war es so weit: Die Vier trafen sich bei Brödels Eltern. Brödel passte vor dem Haus auf, während Näther in das Mikrofon sprach und Schmale die Technik bediente. Uhlig saß am Fenster und würde die beiden Sendenden im Falle eines Zeichens von Brödel warnen.
Um 20 Uhr begann DDR-Präsident Pieck seine Lobrede auf den sowjetischen Diktator. Über eine Stunde funkte Näther immer wieder dazwischen:
“Stalin ist ein Massenmörder und Diktator! Wieder sterben Zehntausende in KZs!”
Außerdem las er Passagen aus dem antikommunistischen Roman “Sonnenfinsternis“ von Arthur Koestler vor.
Nachdem Brödel einen russischen Laster bemerkt hatte, brach die Gruppe die Aktion ab. Zunächst schien alles gut gegangen zu sein. Ein Freund aus Leipzig bestätigte ihnen, dass sie die Rede erfolgreich unterbrochen hatten.
Doch drei Monate später, im März 1950, wurden die Vier von der Stasi verhaftet. Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, wie ihnen die Stasi auf die Schliche kam.
Im September 1950 wurden sie vor einem sowjetischen Militärtribunal in Weimar wegen “konterrevolutionärer Verbrechen gegen die Sowjetunion“ angeklagt. Eine Gelegenheit, sich zu verteidigen, erhielten die Angeklagten nicht. Der Prozess dauerte fünf Tage. Anschließend wurden die Urteile verkündet: Brödel und Uhlig erhielten jeweils 25-jährige Haftstrafen, Schmale musste für 15 Jahre ins Gefängnis.
Am härtesten traf es den als “Rädelsführer“ ausgemachten Achim Näther: Er wurde zum “Tod durch Erschießen“ verurteilt. Brödel erinnerte sich Jahrzehnte später an dessen gefasste Reaktion auf das Urteil:
"Achim grinste leise vor sich hin. Als ob er sagen würde: Ihr könnt machen, was ihr wollt, ich stehe über euch!"
Am 12. Dezember 1950, wenige Tage nach seinem 21. Geburtstag, wurde Hans-Joachim Näther in einem Moskauer Gefängnis erschossen. Erst 1995, 45 Jahre später, erfuhren seine Angehörigen von seiner Hinrichtung. Insgesamt wurden zwischen 1950 und 1953 ca. 1.000 in der DDR verurteilte Deutsche in der Sowjetunion hingerichtet.
Jörn-Ulrich Brödel, Gerhard Schmale und Ulf Uhlig überlebten: Nach Stalins Tod 1953 wurden sie begnadigt und kamen frei. Die Verurteilten wurden 1995 rehabilitiert. Heute erinnert ein Denkmal in Altenburg an den Widerstand gegen die SED-Diktatur.
Die Doku “Vier Schüler gegen Stalin” rekonstruiert die Geschichte.
Enrico Heitzer hat ein Buch über den Widerstand in Altenburg, der neben den beschriebenen Jugendlichen noch weitere junge Männer umfasste, geschrieben.
Bis bald!
Leo
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. Vier Schüler gegen Stalin, MDR
2. "Todesstrafe! Mir blieb die Luft weg.", Der Spiegel
3. Jugendopposition in der DDR
Zeitsprung, #26
Danke sehr, Leo! Ich lese deine Kolumnen immer mit großem Interesse und empfehle sie auch gern im Freundeskreis. Vor allem beeindruckt mich, dass du an Totailtarsmus sowohl von links wie auch rechts erinnerst und auf vergessene Helden hinweist, die heute wichtiger sind denn je. Danke dafür, Yoschie
Was für eine Zeit. Diese Männer gehören gewürdigt. Straßen, Plätze, Theater sollten ihre Namen tragen. Wehe dem, der in Diktaturen ein politisches Gewissen und Mut hat.