Mit einem selbstgebauten Heißluftballon überwanden die Familien Strelzyk und Wetzel 1979 die innerdeutsche Grenze und flohen in die Bundesrepublik. Die spektakuläre Flucht jährte sich in dieser Woche zum 45. Mal.
Der 16. September 1979, gegen 3 Uhr morgens, nahe der innerdeutschen Grenze: In einer Höhe von 2000 Meter kauern acht Menschen auf einer kleinen Holzplattform unter einem selbstgenähten Ballon. Nur ein improvisiertes Geländer aus Wäscheleinen trennt sie von dem pechschwarzen Abgrund.
Die Familien Strelzyk und Wetzel wollen aus der DDR fliehen.
Plötzlich versagt der Brenner. Das Gas ist leer. Der Ballon beginnt zu sinken. Wenige Minuten später landen die vier Erwachsenen und vier Kinder unsanft auf einer Lichtung. Doch ob sie es in den Westen geschafft haben, wissen sie nicht.
Günter Wetzel, geboren 1955 in Thüringen, und Peter Strelzyk, geboren 1942 in Oberschlesien, lernten sich in den 1970er Jahren kennen. Beide arbeiteten bei einem Kunststoffhersteller im thüringischen Pößneck.
Die Männer und ihre Frauen verband die Unzufriedenheit über das Leben in der DDR. Besonders die eingeschränkte Meinungsfreiheit und die stark begrenzten Reisemöglichkeiten störten sie.
Der Wunsch, die DDR zu verlassen, wuchs mit der Zeit: Die Familien suchten nach einem geeigneten Weg, um in den Westen zu fliehen.
Zufällig stieß Günter Wetzel im März 1978 in einer Zeitschrift, die er von einer Verwandten aus der Bundesrepublik bekommen hatte, auf einen Bericht über ein Ballonfahrertreffen in den USA.
Die Hobbytüftler Wetzel und Strelzyk machten sich in der Folge daran, einen Ballon zu entwerfen, der groß genug für acht Personen war.
Sie kauften hunderte Meter Stoff ein und Wetzel begann, daraus einen Ballon zu nähen. Einen Monat später war der Ballon fertig. Der erster Flugversuch ergab jedoch, dass der vernähte Stoff zu luftdurchlässig war — sie mussten ihr Vorhaben abbrechen.
Doch die Familien gaben nicht auf: Sie fingen an, an einem neuen Ballon zu arbeiten. Im Unterschied zum vorherigen Ballon verwendeten sie diesmal luftdichteren Taftstoff.
Nachdem jedoch auch die Flugversuche mit dem zweiten Ballon scheiterten — der Brenner, der den Ballon mit Gas befüllte, war zu schwach — zogen sich Günter und Petra Wetzel aus dem Vorhaben zurück. Zu riskant erschien ihnen eine Ballonflucht.
Dennoch begannen die beiden Familien im Sommer 1979 mit der Planung eines dritten Ballons.
In der Zwischenzeit hatte Familie Strelzyk versucht, mit dem zweiten Ballon zu fliehen. Weil sich der Ballonstoff mit Wasser vollsaugte, scheiterte der Versuch jedoch, noch bevor sie die Grenze erreichten.
Die Zeit drängte: Nach dem Auffinden des Ballons im Grenzsperrgebiet leitete die Stasi eine Großfahndung ein. Die Familien wussten, dass man ihnen früher oder später auf die Spur kommen würde.
Um nicht aufzufallen, besorgten sie den Ballonstoff — rund 1.300 Quadratmeter Regenschirmseide und Zeltnylon — in kleinen Mengen von Händlern in der gesamten DDR. Günter Wetzel ließ sich krankschreiben und saß Tag und Nacht an der Nähmaschine.
Wenige Wochen später war der dritte Ballon fertig. Nun musste nur noch das Wetter mitspielen.
In der Nacht vom 15. auf den 16. September 1979 war es so weit: Der Wind aus nördlicher Richtung versprach geeignete Bedingungen, um in Richtung Süden über die innerdeutsche Grenze zu fliegen.
Kurz nach Mitternacht fuhren die Familien zum ausgemachten Startplatz, einer Wiese nahe der thüringischen Kleinstadt Lobenstein.
Als der Ballon mit Gas befüllt war, bestiegen die Acht die nur knapp zwei Quadratmeter große Holzplattform. Sie durchtrennten die Seile, die den Ballon am Boden hielten und hoben ab.
Auf rund 2000 Metern erlosch mit einem Mal die Flamme des Brenners. Ein Loch im Ballon hatte dazu geführt, dass das Gas schneller aufgebraucht wurde als eingeplant.
28 Minuten nach dem Start landete die Gruppe unversehrt. Da sie die Grenze aus der Luft nicht gesehen hatten, wussten sie nicht, ob es gereicht hatte.
Während sich die Frauen mit den Kindern versteckten, liefen Peter Strelzyk und Günter Wetzel los, um die Umgebung zu erkunden. Auf einem Bauernhof entdeckten sie eine landwirtschaftliche Maschine westlichen Typs.
Kurz darauf trafen sie auf zwei westdeutsche Polizisten, die ihre Vermutung bestätigten: Sie hatten es geschafft.
Sie waren 18 Kilometer mit dem Ballon gefahren und nahe der oberfränkischen Kleinstadt Naila gelandet.
Die Flucht sorgte für eine große mediale Aufmerksamkeit. 1989 waren die beiden Familien in Günther Jauchs Sendung “Na siehste!” zu Gast.
Beide Familien lebten nach der Flucht in Bayern. Nach der Wiedervereinigung zog Familie Strelzyk zurück nach Pößneck.
1982 wurde die Flucht erstmals verfilmt, 2018 ein zweites Mal.
Bis bald!
Leo
Mehr Fluchtgeschichte:
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. ballonflucht.de
2. “Ein Stoffsack, heiße Luft rein, auf geht's", Spiegel
3. Ballonfahrt in die Freiheit, Haus der Bayerischen Geschichte
Dies ist die 52. Ausgabe von Zeitsprung.
Da kommen mir doch sofort wieder Tränen in die Augen, wenn ich das lese, obwohl ich die Geschichte mehrfach im Fernsehen gesehen habe. Toll - und danke.
... tolle Geschichte. Ich bin Amerikanerin, habe aber als Kind in Bitburg, Deutschland, gelebt. Ich erinnere mich, dass ich so viele Geschichten von Menschen gehört habe, die versucht haben zu fliehen. Ich war dort, in Deutschland, als die Berliner Mauer fiel. Aber die Geschichten über die Flucht aus der DDR verfolgten mich so sehr, dass ich als Erwachsener zu viel Angst hatte, Ostdeutschland zu besuchen. Ich war fast 30 Jahre alt, bevor ich diese Angst überwunden habe.
... tolle Geschichte. Danke, dass Sie sie mit uns geteilt haben.