Werner Stiller: Von der Stasi zu Goldman Sachs
Am 18. Januar 1979 passierte der Stasi-Offizier Werner Stiller den deutsch-deutschen Grenzübergang am Berliner Bahnhof Friedrichstraße und floh in die Bundesrepublik. Bei sich trug er zwei Koffer mit streng geheimen Stasi-Unterlagen, die dabei halfen, eine große Anzahl an Spionen im Westen zu enttarnen. Das Überlaufen Stillers gilt heute als eine der größten Niederlagen für die Stasi während des Kalten Kriegs.
Werner Stiller wurde 1948 in Sachsen-Anhalt geboren. 1968 trat er in die SED ein und begann in Leipzig, Physik zu studieren. 1972 wurde er von der Stasi angeworben: Man machte ihm das Angebot, nach Italien zu gehen und sein Studium dort zu beenden. Im Gegenzug verpflichtete er sich, für eine Dauer von mindestens zehn Jahren zum Dienst als Berufssoldat im Ministerium für Staatssicherheit.
Innerhalb der Stasi war Stiller für die sogenannte Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), den Auslandsgeheimdienst der DDR, tätig. Als studierter Physiker arbeitete er im Teilbereich Wissenschaft und Technik, der für Industriespionage in der Bundesrepublik zuständig war. Insgesamt führten hier rund 300 Stasi-Offiziere sogenannte Quellen, die als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in westdeutschen Firmen und Forschungseinrichtungen den Auftrag hatten, die technologisch und wirtschaftlich rückständige DDR mit aktuellen Informationen und Entwicklungsständen zu versorgen.
Als Führungsoffizier war Stiller für sieben dieser Quellen verantwortlich, darunter beispielsweise der inoffizielle Mitarbeiter “Klaus”, der als Buchhalter im Kernforschungszentrum Karlsruhe arbeitete und durch seine Position Einblick in vertrauliche Dokumente hatte.
Während seiner Zeit bei der Stasi, für die er immer wieder ins Ausland reiste, begannen seine Zweifel am Sozialismus zu wachsen. Laut seines Sohns Andy war sein Vater zudem ein Mensch, den das Neue und Unbekannte stets reizte.
1978 lernte Stiller während einer Reise nach Oberhof in Thüringen Helga Michnowski kennen. Mithilfe ihres in Westdeutschland lebenden Bruders schaffte Stiller es, Kontakt zum Bundesnachrichtendienst aufzunehmen. Obwohl der BND zunächst zögerte und in der Kontaktaufnahme eine mögliche Falle der Stasi witterte, intensivierte sich der Nachrichtenaustausch in den folgenden Monaten zwischen dem westdeutschen Geheimdienst und Stasi-Oberleutnant Stiller.
Dies blieb jedoch nicht lange unbemerkt: Schon wenige Wochen nach der Kontaktaufnahme fing die Stasi einen von Helga Michnowski verschickten Brief mit einem fingierten Absender ab und fing an, mit Hochdruck nach dem “Verräter” zu ermitteln.
Als Stiller den BND von seiner Fähigkeit, hochwertige Informationen liefern zu können, überzeugt hatte und im Gegenzug Unterstützung für die Zeit nach seiner Flucht versichert bekommen hatte, konkretisierte er seinen Fluchtplan: Helga Michnowski würde mit ihrem Sohn über Warschau in die Bundesrepublik ausreisen, während er selber den Diensteingang am Grenzübergang Friedrichstraße nutzen würde.
Ein letztes Mal fuhr Stiller am Abend des 18. Januar 1979 an seinen Arbeitsplatz in der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße. Dort brach er Aktenschränke auf und verstaute so viele sensible Dokumente wie möglich in zwei mitgebrachten Koffern. Trotz eines Fehlers in seinen Ausreisedokumenten gelang ihm die Flucht.
Stillers Überlaufen löste ein großes mediales Echo aus. Mithilfe seiner Informationen wurden diverse Agenten im Westen enttarnt und wegen Landesverrats verurteilt. In Abwesenheit wurde er in der DDR zum Tode verurteilt und die Stasi soll jahrelang einen großen Aufwand betrieben haben, um ihn zu finden und zurück in den Osten zu bringen.
Anfang der 1980er Jahre begann für Stiller, der seine Frau und zwei gemeinsame Kinder in der DDR zurückgelassen hatte, ein neues Leben unter neuer Identität: Von der CIA vermittelt, absolvierte er als Klaus Peter Fischer ein Wirtschaftsstudium in den USA, bevor er für Goldman Sachs als Investmentbanker in New York, London und Frankfurt am Main arbeitete. Werner Stiller starb 2016 in Budapest.
In dieser Dokumentation schildern Werner Stiller und diverse weitere Zeitzeugen ihre Eindrücke von damals und im “Cold War Conversations”-Podcast spricht Stillers Sohn Andy ausführlich über seinen Vater. Werner Stiller hat zudem ein Buch über sein Leben als Spion geschrieben.
Bis bald!
Leo
Für diesen Text genutzte Quellen:
1. Der Überläufer, Guido Knopp und Peter Adler
2. Werner Stiller, Bundeszentrale für politische Bildung
3. My Father was a Stasi Spy, Cold War Conversations