Als die deutsche Wehrmacht die Niederlande im Mai 1940 überfiel und besetzte, war Tina Strobos 19 Jahre alt. Sie beschloss mit ihrer Mutter, sich gegen die Besatzer zu wehren und verfolgten Juden zu helfen: Die Pension, die die beiden in ihrem Amsterdamer Reihenhaus betrieben, wurde bis 1945 zu einem Versteck für insgesamt mehr als 100 Menschen.
Amsterdam während des Zweiten Weltkriegs: Ein deutscher Gestapo-Mitarbeiter hämmert an die Tür eines dreistöckigen Reihenhauses.
Tina Strobos öffnet die Tür. Sie wohnt mit ihrer Mutter in dem Haus, in dem die beiden eine kleine Pension betreiben.
Wo der Jude sei, der sich hier verstecke, will der Mann wissen.
“Hier versteckt sich niemand.”
Der Gestapo-Mann schiebt Tina zur Seite und betritt das Haus. Ihm folgen sechs weitere Männer.
Sie durchsuchen die Zimmer, rollen Teppiche beiseite, hängen Bilder von den Wänden ab. Tina beteuert, dass sie von nichts wisse.
Als die Gestapo das Haus nach zwei Stunden wieder verlässt, atmet Tina durch.
Sie haben niemanden gefunden.
Tina Strobos wurde am 19. Mai 1920 als Tineke Buchter in Amsterdam geboren. Nach der Trennung ihrer Eltern lebte sie bei ihrer Mutter, Marie Schotte. Tina besuchte eine Montessori-Schule.
Marie Schotte richtete eine kleine Pension in ihrem dreistöckigen Zuhause ein. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland nahm der Anteil jüdischer Pensionsgäste, die aus ihrer Heimat geflohen waren, stetig zu.
1939 begann Tina ein Medizinstudium an der Universität Amsterdam. Kurz vor ihrem 20. Geburtstag überfiel die Wehrmacht im Mai 1940 die Niederlande und besetzte das neutrale Land.
Tina und Marie hatten viele jüdische Freunde, die nun auch in den Niederlanden von der deutschen Judenverfolgung bedroht waren. Sie stellten ihnen die Pensionszimmer in ihrem Haus als Versteck zur Verfügung.
Als einer der Ersten tauchte der Physiker Abraham Pais, mit dem Tina kurzzeitig verlobt war, bei ihnen unter. Pais arbeitete später eng mit Albert Einstein und Niels Bohr zusammen.
Mit der Zeit nahm die Hilfe zunehmend professionellere Züge an: Vermittelt durch den holländischen Widerstand suchten immer mehr Menschen Zuflucht im Haus von Marie und Tina, das bis zu fünf Personen gleichzeitig Platz bot.
Zwischen zwei Dachgiebeln schuf ein Tischler mit einer eingezogenen Holzwand einen Unterschlupf, in dem sich die Verfolgten bei möglichen Hausdurchsuchungen verstecken konnten. In diesem Video ist das Versteck zu sehen.
Tina besorgte Lebensmittelmarken für die Untergetauchten und verschaffte ihnen neue Papiere, um ihnen eine Ausreise aus den Niederlanden zu ermöglichen.
Der Einsatz für die Verfolgten war gefährlich: Neunmal verhaftete die Gestapo Tina, achtmal wurde das Haus durchsucht. Bei den Verhören verlangte sie stets einen Übersetzer — nicht, weil sie kein Deutsch sprach, sondern um Zeit zu gewinnen und sich eine passende Antwort zurechtzulegen.
Dass die Deutschen Tina und ihrer Mutter nie etwas nachweisen konnten, hatten sie auch einem unbekannten Informanten zu verdanken:
Mehrmals erhielten die Frauen Anrufe von einem Mann, der sich “Jan” nannte und vor den bevorstehenden Hausdurchsuchungen warnte. Sie erfuhren nie, wer sich hinter Jan verbarg.
Als Tina sich 1942 weigerte, einen Treueid auf die Nationalsozialisten zu unterzeichnen, wurde sie vom Studium ausgeschlossen. In der Folge arbeitete sie noch enger mit dem Widerstand zusammen: Sie überbrachte Informationen und schmuggelte Radiogeräte und Waffen in ihrem Fahrradkorb.
Insgesamt schützten Tina und ihre Mutter mehr als 100 Menschen vor den Deutschen. Fast alle von ihnen überlebten den Zweiten Weltkrieg.
Tina bedauerte später, dass sie Anne Frank und ihrer Familie nicht helfen konnte. Das Versteck der Franks lag nur wenige Fußminuten von Tinas Zuhause entfernt:
“Wenn ich gewusst hätte, dass sie dort sind, hätte ich sie aus dem Land gebracht.”
Auf die Frage, warum die beiden Frauen die enormen persönlichen Risiken auf sich nahmen, antwortete Tina später:
“Es war unsere Pflicht, zu helfen. Das Leben ist das Heiligste und wir müssen uns gegenseitig helfen.”
Nach dem Krieg setzte Tina ihr Studium fort. 1946 machte sie ihren Abschluss. 1951 wanderte sie in die USA aus. Bis ins hohe Alter von 89 Jahren arbeitete sie als Psychologin. Sie war zweimal verheiratet und hatte drei Kinder.
Tina Strobos starb am 27. Februar 2012 im Alter von 91 Jahren.
In diesem ausführlichen Video-Interview erzählt Tina Strobos von ihrem Leben.
Bis bald!
Euer Leo
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. Tina Strobos Chudson, USC Shoah Foundation
2. A Believer in Heroism, to Jews’ Lasting Gratitude, The New York Timesf
3. Tina Strobos dies at 91, The Washington Post
Dies ist die 73. Ausgabe von Zeitsprung.
Lieber Leo, wieder eine tolle Story
zwei mutiger Frauen.
Ich bin immer froh zu lesen, dass die Helferinnen ihren Einsatz ohne
Schaden zu nehmen überstanden hatten und danach noch ein friedliches Leben führen konnten.
Lieber Leo, auch diesmal haben Sie mich überrascht mit dem Bericht über Tina Strobos, über die ich bisher nichts erfahren hatte. DANK und weiterhin gute Erfolge - Gruß Kathleen
Hinweis: auch diesmal traf der Zeitsprung als spam ein.