Stephanie Shirley wurde in Deutschland geboren. Als jüdisches Mädchen floh sie vor den Nazis nach England. Dort baute sie ab Anfang der 1960er Jahre eine Firma auf, die neue Maßstäbe setzte: Frauen programmierten Software aus dem Home Office. Heute setzt sie sich für wohltätige Zwecke ein.
London im Sommer 1939: Ängstlich blickt die fünfjährige Stephanie in die Gesichter vieler unbekannter Erwachsener, deren Sprache sie nicht spricht. Neben ihr steht ihre ältere Schwester. Sie hält ihre Hand fest umklammert.
Die Mädchen haben eine anstrengende Reise hinter sich: Mit einem Kindertransport, der jüdische Kinder vor den Nationalsozialisten retten soll, sind sie ohne ihre Eltern aus Wien nach London geschickt worden.
Ein Betreuer stellt die beiden Schwestern einem Ehepaar vor, bei denen sie von nun an wohnen werden.
Für Stephanie ist es der Beginn eines neuen, eines außergewöhnlichen Lebens.
Stephanie Shirley wurde am 16. September 1933 als Vera Stephanie Buchthal in Dortmund geboren. Ihr Vater war Richter. Als Jude wurde er nach der “Machtergreifung” der Nationalsozialisten aus dem Staatsdienst entlassen.
In der Folge zog die Familie nach Wien um. Nach dem “Anschluss” Österreichs an das Deutsche Reich sah sich die Familie Buchthal auch dort Repressalien ausgesetzt.
Um die Kinder zu schützen, trafen die Eltern eine schwere Entscheidung: Sie schickten die fünfjährige Stephanie gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Renate im Juli 1939 mit einem Kindertransport nach England.
Die beiden Mädchen kamen in der Kleinstadt Sutton Coldfield bei einem kinderlosen Paar unter. Sie lernten Englisch und wurden eingeschult, als der Zweite Weltkrieg begann.
Stephanie entwickelte ein großes Interesse an Mathematik. Da Naturwissenschaften an Mädchenschulen kaum unterrichtet wurden, erhielt sie eine Sondererlaubnis, um den Mathematikunterricht an der Jungenschule zu besuchen.
Auch Stephanies und Renates Eltern gelang die Flucht nach Großbritannien. Während Renate zu ihrer Mutter zog, verstand sich Stephanie so gut mit ihren Pflegeeltern, dass sie bei ihnen wohnen blieb.
Mit 18 Jahren erhielt Stephanie die britische Staatsbürgerschaft. Nach ihrem Schulabschluss begann sie bei der “Royal Mail” in einer Statistikabteilung Computer zu programmieren. Ein Studium kam aus finanziellen Gründen nicht in Frage. Stattdessen vertiefte sie ihre Mathematikkenntnisse nach der Arbeit in einer Abendschule.
Obwohl ihr der Job bei der Post gefiel, störte sie sich daran, dass sie als Frau nicht ernst genommen wurde. Weil sie keine Aufstiegsmöglichkeiten sah, kündigte sie.
Mit einem Startkapital von sechs Pfund gründete Stephanie Shirley, wie sie seit der Heirat mit Derek Shirley hieß, 1962 eine eigene Firma. “Freelance Programmers” spezialisierte sich auf den Vertrieb von Software.
Ein revolutionärer Schritt: Frauen brauchten zu dieser Zeit die Erlaubnis ihres Ehemanns, um überhaupt arbeiten zu dürfen.
Auch mit ihrer Geschäftsidee betrat die 29-Jährige Neuland. Die Softwareentwicklung steckte noch in den Kinderschuhen — die späteren Software-Koryphäen Bill Gates und Steve Jobs wurden zu dieser Zeit gerade einmal eingeschult.
Der Anfang gestaltete sich sehr steinig, wie sich Shirley später erinnerte:
“Ich wurde ausgelacht und verspottet. Weil ich eine Frau war – und noch dazu Software verkaufen wollte. Dafür gab es damals noch keinen Markt.”
Um ernst genommen zu werden, griff sie schließlich in die Trickkiste: Anstatt mit Stephanie, unterschrieb sie Geschäftsanfragen fortan mit “Steve” — eine kleine, aber entscheidende Änderung, die funktionierte.
Die Anzahl der Kundenaufträge schoss in die Höhe. Auch die Software des Flugdatenschreibers des Überschallflugzeugs Concorde ging auf Stephanies Firma zurück.
Mit zunehmendem Erfolg wuchs auch die Belegschaft. In den ersten Jahren stellte Stephanie ausschließlich Mitarbeiterinnen ein. Sie wollte Frauen ermöglichen, Familie und Arbeit zu verbinden. Sogar das Home Office führte sie ein.
Auf ihrem Höhepunkt zählte “Xansa”, wie die Firma später hieß, mehr als 8.500 Beschäftigte und war mit 3 Milliarden Pfund bewertet.
In den späten 1980er Jahren begann Stephanie, sich langsam aus dem operativen Geschäft zurückzuziehen. Rund ein Viertel der Unternehmensanteile überschrieb sie auf ihre Belegschaft. 2007 wurde Xansa an Sopra Steria verkauft.
Seit dem Tod ihres autistischen Sohnes, Giles, setzt sie sich für die Erforschung von Autismus ein. Den Großteil ihres Vermögens hat die heute 91-jährige Stephanie Shirley an karitative Organisationen gespendet.
Angesprochen auf ihren Werdegang, wie sie trotz schwieriger Startbedingungen und enormer Herausforderungen die Motivation und das Durchhaltevermögen für ihren außergewöhnlichen Lebensweg aufbrachte, entgegnete sie:
“Ich war entschlossen, ein Leben zu führen, das es wert ist, gerettet zu werden.”
Stephanie Shirley hat eine Autobiografie veröffentlicht. Hier ist die Aufzeichnung ihres TED-Talks von 2015.
Bis bald!
Euer Leo
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. Achieving the unimaginable, steveshirley.com
2. Dame Stephanie Shirley, BBC
3. Growing influence, The Guardian
Dies ist die 79. Ausgabe von Zeitsprung.
Toll - angeregt durch die Geschichte einfach mal Sopra Steria gesucht und siehe da: die Fa. ist noch heute sehr weit und breit aufgestellt und hat sogar eine Filiale in Berlin! Respekt für die Dame!
Eine tolle Frau! In der Zeit so etwas durchzusetzen – mehr als Respekt! Es könnte gut sein, dass es für eine Frau auch heute noch einige Hindernisse auf diesem Weg gäbe. Wäre schön, wenn es mal gelänge, den Menschen jeweils nur als Menschen zu betrachten, der seine Fähigkeiten auslebt! Danke Leo!