Schon mit 15 Jahren engagierte sich die Österreicherin Melanie Berger-Volle gegen den aufkommenden Nationalsozialismus. Kurz darauf musste sie fliehen. In Frankreich engagierte sie sich im Widerstand, wurde verraten und zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Auf spektakuläre Weise gelang ihr die Flucht. Am Dienstag feiert eine der letzten Zeitzeuginnen ihren 103. Geburtstag.
Der 15. Oktober 1943 in einem Marseiller Krankenhaus: Gegen Mittag hallen deutsche Befehle durch den Flur des Gefangenentrakts. Zwei Gestapo-Männer und eine Krankenschwester sollen eine Frau zum Verhör abholen. Sie betreten die Zelle einer Patientin, die an Gelbsucht leidet. Kurz darauf eskortieren sie die Gefangene aus dem Trakt.
Vor dem Gebäude steigen sie in ein wartendes Auto. Die anwesenden Hilfstruppen der Gestapo salutieren, als der Wagen davonfährt.
Was wie ein Routinevorgang aussieht, ist in Wahrheit ein sorgfältig vorbereiteter Plan des Widerstands, ein inhaftiertes Mitglied zu befreien: Melanie Berger.
Melanie Berger-Volle wurde am 8. Oktober 1921 in Wien geboren. Sie wollte Abitur machen, doch verließ die Schule auf Drängen ihres Vater frühzeitig, um eine Ausbildung zur Schneiderin zu beginnen.
Früh entwickelte Melanie ein Interesse für Politik. Sie lernte ihren Nachbarn Peter Strasser und dessen Freundin kennen, die sie an politische Themen heranführten.
Strasser war Mitbegründer der Revolutionären Sozialisten, einer Organisation, die sich nach dem Verbot der österreichischen Sozialdemokraten 1934 gebildet hatte.
Mit 13 Jahren nahm Melanie an ihren ersten politischen Versammlungen teil. Später schloss sie sich den antistalinistischen “Revolutionären Kommunisten Österreich” (RKÖ) an.
Als 15-Jährige begann sie, Parolen gegen den Austrofaschismus und die deutschen Nationalsozialisten an Hauswände zu kleben.
Nach dem “Anschluss” Österreichs an NS-Deutschland im März 1938 war Melanie als Jüdin und Kommunistin doppelt gefährdet. Die 16-Jährige beschloss, das Land zu verlassen.
Gemeinsam mit zwei Mitstreitern reiste sie durch Deutschland nach Belgien. Dort verbrachte sie einige Monate, bevor sie Anfang 1939 nach Frankreich weiterzog.
In Paris erhielt Melanie eine Aufenthaltsbewilligung. Sie mietete sich ein Zimmer an, das ein Treffpunkt für Geflohene wurde.
Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden in Paris lebende Deutsche ausgewiesen. Viele von Melanies Mitstreitern wurden interniert. Sie entkam der Verhaftung nur, indem sie sich bereit erklärte, als Dienstmädchen in Clermont-Ferrand zu arbeiten.
Nach der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 reiste Melanie in den noch unbesetzten, südlichen Teil des Landes. In Montauban traf sie erneut auf Peter Strasser und weitere ehemalige Mitstreiter.
Zusammen bauten sie eine Widerstandszelle auf. Die Gruppe verfasste Flugblätter, mit denen sie die Bevölkerung aufforderte, sich gegen die Nazis zu wehren. Doch sie warnten auch vor dem sowjetischen Diktator Stalin und dessen Geheimpolizei GPU.
Das Leben im Untergrund war gefährlich: Die Gruppe wurde verraten. Melanie wurde von der mit den Nazis kollaborierenden Polizei verhaftet, verhört und misshandelt.
Schließlich wurde sie von einem Sondergericht wegen “kommunistischer und anarchistischer Propaganda” zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Anschließend wurde sie in ein Frauengefängnis in Marseille deportiert. Die Haftbedingungen waren miserabel, Melanie erkrankte an Gelbsucht.
Ab Ende 1942 besetzten die Deutschen auch den südlichen Teil Frankreichs. Die Lage wurde noch bedrohlicher: 1943 begann die Gestapo, die Gefängnisse in Südfrankreich auf der Suche nach politischen Häftlingen zu durchkämmen.
Im Oktober 1943 folgte die spektakuläre Befreiungsaktion aus dem Krankenhaus: Dabei verkleideten sich Melanies Freunde Georg Scheuer und Gustav Gronich als Gestapo-Männer. Eine weitere Genossin von den RKÖ spielte die Krankenschwester.
Melanie erholte sich von der Gelbsucht. Bis zum Kriegsende arbeitete sie unter falschem Namen als Kurierin für die Résistance.
Nach dem Krieg lebte sie zunächst als Staatenlose in Frankreich. 1947 erhielt sie die französische Staatsbürgerschaft. 1965 heiratete sie den ehemaligen Widerstandskämpfer Lucien Volle.
Jahrzehntelang engagierte sich das Paar in der Erinnerungsarbeit. Noch immer erzählt die inzwischen fast 103-jährige Melanie Berger-Volle regelmäßig in Schulen von ihren Erfahrungen im Widerstand.
“Eine Demokratie ist nicht immer perfekt. Aber man kann frei sprechen und wird nicht ins Gefängnis gesteckt, wenn man eine andere Meinung hat. Wir müssen achtgeben, dass sich das, was wir damals erlebt haben, nicht wiederholt.”
In diesem Interview berichtet Melanie Berger-Volle über ihr Leben. Kürzlich ist ihre Biografie erschienen.
Bis bald!
Leo
Die wichtigsten für diesen Text verwendeten Quellen:
1. Oral History Interview mit Melanie Berger-Volle, Österreichische Mediathek
2. Auf der Flucht, Spiegel Geschichte
3. Widerstandskämpferin, Zeitzeugin, Fackelläuferin: Berger-Volle "will noch immer die Welt ändern", Der Standard
Dies ist die 53. Ausgabe von Zeitsprung.
Hallo Herr Dihlmann ich bin immer auf einen neuen Zeitsprung gespannt. Vielen Dank für die tolle Arbeit
Kai
Spannend und höchst informativ! 👍 Also eigentlich wie immer 😀
Danke für die „Zeitsprünge“!