Ludwig Guttmann war einer der bedeutendsten Neurologen des 20. Jahrhunderts. Vor den Nationalsozialisten nach England geflohen, baute er ein Zentrum für die Behandlung von Rückenmarksverletzungen auf. Seine visionären Behandlungsmethoden retteten unzähligen Querschnittsgelähmten das Leben. Mit seinem unermüdlichen Einsatz legte er den Grundstein für die Paralympischen Spiele.
Rom, September 1960: Im Anschluss an die Olympischen Spiele in der ewigen Stadt finden die ersten “Weltspiele der Gelähmten” statt.
400 querschnittsgelähmte Männer und Frauen aus 23 Ländern messen sich in acht Sportarten.
Zu verdanken ist diese Weltneuheit dem Neurologen Ludwig Guttmann. Seine visionäre Arbeit prägt die Behandlung von Querschnittslähmungen bis heute.
Ludwig Guttmann wurde am 3. Juli 1899 in Oberschlesien geboren. Nach dem Abitur studierte er Medizin in Breslau und Freiburg im Breisgau. In den folgenden Jahren wurde er einer der führenden Ärzte auf dem noch neuen Gebiet der Neurologie.
1933 verlor Guttmann seine Anstellung aufgrund des nationalsozialistischen Berufsverbots für Juden. Er wurde daraufhin Oberarzt in der Neurologie des Jüdischen Krankenhauses in Breslau, dessen Direktor er 1937 wurde.
Während des Novemberpogroms 1938 gelang es Guttmann, mehr als 60 jüdische Menschen im Krankenhaus zu verstecken und vor der Verhaftung durch die Gestapo zu schützen.
Im März 1939 emigrierte er mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Großbritannien. In Oxford erhielt der renommierte Mediziner eine Stelle und konnte seine Forschung zur Behandlung von Querschnittslähmungen fortsetzen.
Guttmanns Pionierarbeit in der Neurologie blieb auch der britischen Regierung nicht verborgen. Er wurde gebeten, ein nationales Zentrum für Wirbelsäulenverletzungen aufzubauen:
1944 wurde das “National Spinal Injuries Centre” in Stoke Mandeville, rund 60 Kilometer nordwestlich von London gelegen, eröffnet.
Der Großteil der Patienten waren Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs Rückenmarksverletzungen erlitten hatten, die zu einer Querschnittslähmung führten.
Eine Querschnittslähmung glich bis Mitte des 20. Jahrhunderts in vielen Fällen einem Todesurteil: 80% der Patienten starben innerhalb weniger Jahre an Folgeerkrankungen.
Guttmann wollte dies ändern. Er widersprach der verbreiteten Lehrmeinung, dass querschnittsgelähmte Patienten nicht bewegt werden dürfen und man nichts für sie tun könne.
Stattdessen ordnete er an, Übungen für den Muskelaufbau zu einem wichtigen Bestandteil des Rehabilitationsprogramms zu machen. Mit Erfolg: Schnell wurde deutlich, dass Sport nicht nur die physische Verfassung der Patienten verbesserte.
Sie gewannen auch an Lebensmut und Selbstbewusstsein, wie Guttmann erklärte:
“Mehr und mehr verstehen die querschnittsgelähmten Patienten, dass die vielen Aspekte des körperlichen Trainings keineswegs nur Ablenkungen sind, sondern dass sie Wege repräsentieren, den Glauben in sich selbst wiederzufinden, um ihre Behinderung zu beherrschen und sich auf ein neues Leben in der großen, weiten Welt vorzubereiten.”
Bei einem Krankenhausrundgang beobachtete Ludwig Guttmann eine Gruppe Männer in Rollstühlen mit Besenstielen in der Hand. Auf der Jagd nach einem Ball rasten sie über das Parkett.
Inspiriert von diesem Ereignis begann Guttmann, Sportwettkämpfe unter den querschnittsgelähmten Patienten zu organisieren:
Parallel zu den ersten Olympischen Spielen nach dem Zweiten Weltkrieg begannen im Juli 1948 die ersten “Stoke Mandeville Games für Gelähmte”. 14 Männer und zwei Frauen traten im Bogenschießen gegeneinander an.
Die Spiele wurden jährlich mit wachsendem Teilnehmerfeld wiederholt. 1952 nahmen bereits 130 Männer und Frauen aus mehreren Ländern teil, die sich unter anderem in Rollstuhl-Hockey, -Polo und -Billiard maßen.
1960 erreichte der Behindertensport dank Guttmanns unermüdlichen Einsatzes einen vorläufigen Höhepunkt: Im Anschluss an die Olympischen Spiele in Rom fanden erstmals die “Weltspiele der Gelähmten” — heute bekannt als Paralympische Spiele — statt.
Heutzutage finden die Paralympischen Sommer- und Winterspiele jeweils am Austragungsort der Olympischen Spiele statt. 2024 traten in Paris rund 4.400 Sportlerinnen und Sportler bei den Paralympics an.
Gemessen am Ticketverkauf sind sie nach den Olympischen Spielen und der Fußball-Weltmeisterschaft das größte Sportereignis der Welt.
Ludwig Guttmann wurde für seine Verdienste in der Neurologie und um den Behindertensport vielfach ausgezeichnet. Er starb am 18. März 1980 im Alter von 80 Jahren.
In diesen Interviews erzählte Ludwig Guttmann von seinem Leben.
Frohe Ostern und bis bald!
Euer Leo
Eine weitere Geschichte im Kontext der Olympischen Spiele 1960:
Zeitsprung auf Instagram | Bluesky
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. Paralympische Spiele, Olympics.com
2. Ludwig Guttmann - Begründer der Paralympics, DOSB
3. The Sir Ludwig Guttmann Lecture 2012: the contribution of Stoke Mandeville Hospital to spinal cord injuries, Nature
Dies ist die 78. Ausgabe von Zeitsprung.
Danke, Leo, für diese großartige Kurz-Bio eines wunderbaren Menschen.
Frohe Ostertage und danke für die Geschichte!
Helmut