Ettore Majorana galt als Genie der Physik. Seine Beiträge auf dem Gebiet der Kernphysik waren wegweisend für die weitere Forschung. 1938 bestieg der Italiener ein Schiff und verschwand spurlos. Bis heute wirft das ungeklärte Schicksal Majoranas Rätsel auf.
Am 25. März 1938 betritt der 31-jährige Physikprofessor Ettore Majorana die Universität von Neapel. Er trifft eine seiner Studentinnen und überreicht ihr einen Stapel Vorlesungsunterlagen. Anschließend verlässt er das Universitätsgebäude und besteigt ein Schiff nach Palermo.
Am nächsten Tag erhält sein Chef ein Telegramm aus der sizilianischen Hauptstadt. Es ist das letzte Lebenszeichen des als “Genie” beschriebenen Majorana, dessen Verschwinden bis heute ungeklärt ist.
Ettore Majorana wurde am 5. August 1906 – vor 118 Jahren – in Catania auf Sizilien geboren. Schon als Kind wurde sein außergewöhnliches mathematisches Talent offensichtlich: Anspruchsvolle Aufgaben löste er problemlos im Kopf.
Nach dem Abitur begann Ettore, der als schüchtern und verschlossen galt, Ingenieurwesen in Rom zu studieren. 1928 wechselte er an das physikalische Institut der Universität Rom unter der Leitung des späteren Physik-Nobelpreisträgers Enrico Fermi.
Majorana wurde ein wichtiger Bestandteil der “Ragazzi di Via Panisperna”, einer Gruppe junger Physiker, die mit Fermi eines der weltweit bedeutendsten Institute der Quantenphysik aufbauten.
Innerhalb kürzester Zeit schloss er sein Studium ab und promovierte. Fermi sagte über Majorana:
"Es gibt Wissenschaftler verschiedener Kategorien: Die zweiten und dritten Grades geben ihr Bestes, kommen aber nicht weit. Dann gibt es erstrangige Forscher, die Großes für die Physik leisten. Und es gibt Genies wie Galilei und Newton. Majorana ist einer von denen."
Majorana interessierte sich besonders für den Teilbereich der Physik, der sich mit dem Aufbau des Atomkerns beschäftigt: die Kernphysik.
Bis in die 1930er Jahre glaubte die Wissenschaft, dass der Atomkern aus den beiden damals bekannten Elementarteilchen, den Protonen und den Elektronen, besteht. Dass dies nicht stimmen konnte, wie diverse Experimente demonstrierten, wurde jahrelang ignoriert.
Majorana ging diesem Widerspruch nach und entwickelte ein alternatives Kernmodell:
Neben den bereits bekannten Protonen und Elektronen musste es ein weiteres Elementarteilchen geben, das den Atomkern zusammenhält. Diese heute als Neutronen bekannten Teilchen nannte er “neutrale Protonen”.
Anstatt sein Modell jedoch zu veröffentlichen, verschwand es in Majoranas Schreibtischschublade. Für den introvertierten Physiker keine Seltenheit: Häufig empfand er seine Entdeckungen als banal und nicht veröffentlichungswürdig.
Erst als Majorana im Februar 1932 einen Artikel von James Chadwick las, in dem dieser von seiner Entdeckung des Neutrons schrieb, zeigte er Fermi sein ausgearbeitetes Kernmodell.
Fermi erkannte das Potenzial der Modells. Er versuchte, Majorana zu überzeugen, seine nobelpreiswürdigen Ergebnisse umgehend zu publizieren — doch Majorana lehnte ab. James Chadwick erhielt 1935 schließlich den Nobelpreis in Physik für die Entdeckung des Neutrons.
In der ersten Jahreshälfte 1933 reiste Majorana nach Leipzig und Kopenhagen. Dort arbeitete er mit den Nobelpreisträgern Werner Heisenberg und Niels Bohr zusammen, zwei der wichtigsten Physiker des 20. Jahrhunderts.
Zur großen Verwunderung seiner Kollegen tauchte er nach seiner Rückkehr nach Italien im Sommer 1933 vollständig unter: Die nächsten vier Jahre verbrachte er zurückgezogen in seinem Zimmer im Elternhaus. Er entwickelte eine Leidenschaft für die Philosophie und schrieb.
1937 konnte sein Förderer Enrico Fermi ihn schließlich dazu bewegen, sich auf eine Professur an der Universität von Neapel zu bewerben - mit Erfolg: Im Januar 1938 begann er, zu unterrichten.
Doch nur zwei Monate später verschwand Majorana unter mysteriösen Umständen: Er fuhr nach Palermo, sendete ein letztes Lebenszeichen und nahm die Fähre zurück nach Neapel. Seitdem gilt er als vermisst.
Während die Polizei die Ermittlungen rasch einstellte — sie ging von einem Suizid durch Ertrinken aus — suchte seine Familie verzweifelt nach ihm.
Weder eine hohe ausgelobte Belohnung noch Bitten um Unterstützung durch den Vatikan und sogar Benito Mussolini konnten entscheidend dazu beitragen, das Genie wiederzufinden.
Immer wieder gab es Spekulationen zu seinem Verbleib — die Theorien reichten von Mord bis hin zur Auswanderung nach Südamerika — doch bis heute bleibt das Rätsel um Ettore Majoranas Schicksal ungelöst.
Leonardo Sciascia hat ein Buch über Majoranas Verschwinden geschrieben.
Bis bald!
Leo
Mehr Wissenschaftsgeschichte:
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. The Mysterious Disappearance of Ettore Majorana, Journal of Physics
2. 26. März 1938 - Der italienische Physiker Ettore Majorana verschwindet, WDR Zeitzeichen
3. Ettore Majorana: genius and mystery, Cern Courier
Dies ist die 48. Ausgabe von Zeitsprung.
Super interessant. Noch nie von ihm gehört. Danke, Leo.
Interessante Vita! Und super True-Crime-Grundlage: Süditalien, Wissenschaft, Atombobe … sehe schon das Netflix-Special. ;-) Bin direkt mal hierin abgetaucht, du sicher auch schon: https://www.worldscientific.com/doi/pdf/10.1142/9789811207020_0001
So oder so, danke fürs Drüberschreiben!