Die US-Amerikanerin Dorothy Thompson war die erste Ausländerin, die Hitler interviewte – und die erste Journalistin, die für ihre kritische Berichterstattung aus Deutschland ausgewiesen wurde. Später wurde sie zu einer der einflussreichsten Frauen des 20. Jahrhunderts.
Dorothy Thompson wurde am 9. Juli 1893 im Bundesstaat New York geboren. Im Gegensatz zu den meisten Frauen zu dieser Zeit konnte sie studieren. 1914 schloss sie ihr Politik- und Wirtschaftsstudium ab.
In der Folge schrieb sie erste Artikel, die sie an verschiedene Zeitungen verkaufte. Um ihre journalistische Karriere voranzutreiben, reiste sie 1920 nach Europa.
In Wien arbeitete sie als Auslandskorrespondentin für die Zeitungen New York Evening Post und Philadelphia Public Ledger. 1924 zog Thompson weiter nach Berlin.
Dort wurde ihr die Leitung des Auslandbüros der New York Evening Post übertragen – sie war die erste Frau in einer derartigen Position, überhaupt. Auf ihren Reisen interviewte sie politische Größen wie Kemal Atatürk und Leo Trotzki.
In der jungen Weimarer Republik verfolgte sie den Aufstieg der Nationalsozialisten aus nächster Nähe mit. Um die wachsende Bewegung und ihren Anführer Adolf Hitler besser zu verstehen, bemühte sie sich um ein Interview.
Es dauerte sieben Jahre bis ihre Anfrage akzeptiert wurde: Im Berliner Hotel “Kaiserhof” durfte sie Hitler 1931 drei Fragen stellen. Thompson wurde die erste ausländische Journalistin, die Hitler interviewte.
In der Reportage über ihre Begegnung mit dem späteren Diktator, die in der Zeitschrift “Cosmopolitan” erschien, hielt sie fest:
“Als ich Adolf Hitlers Zimmer betrat, war ich der festen Überzeugung, dem künftigen Diktator von Deutschland zu begegnen. Keine fünfzig Sekunden später war ich mir ziemlich sicher, dass dies nicht der Fall war. So lange dauerte es in etwa, um die verblüffende Bedeutungslosigkeit dieses Mannes zu ermessen, der die Welt in Atem hielt.”
Sie sah in Hitler die “Verkörperung des kleinen Mannes”:
“Er ist formlos, fast gesichtslos […]. Er ist belanglos und redselig, von schlechter Haltung und unsicher.”
Doch gerade darin, vermutete sie, könne der Schlüssel zu seinem Erfolg liegen: Der kleine Mann wusste, wie er zu den kleinen Menschen zu sprechen hatte, die während der Weimarer Republik viel verloren hatten.
Zudem stellte Thompson fest, dass Hitler eine hypnotische Wirkung haben konnte und einen rätselhaften Charme ausstrahlte.
Obwohl er kaum konkret auf Thompsons Fragen einging und mit ihr sprach, als rede er vor einer großen Menschenmenge, gab er in Bezug auf seine Pläne offen zu:
„Ich werde legal an die Macht kommen. Dann werde ich das Parlament und die Weimarer Verfassung auflösen. Ich werde einen autoritären Staat errichten.“
2023 wurde Thompsons Reportage, erstmals vollständig auf Deutsch übersetzt, unter dem Titel “Ich traf Hitler!” veröffentlicht.
Dass Dorothy Thompson international berühmt wurde, hatten die Nazis selbst mitzuverantworten: Als erste amerikanische Journalistin wurde sie im August 1934 wegen “deutschfeindlicher” Aktivitäten ausgewiesen. Die New York Times berichtete auf der Titelseite von dem Vorfall.
Zurück in den USA begann Thompson 1936, die themenübergreifende Kolumne “On the Record” für die New York Herald Tribune zu schreiben. Ihre Beiträge, die bis 1958 mehrmals wöchentlich erschienen, erreichten regelmäßig mehrere Millionen Menschen.
1939 wurde sie auf der Titelseite des Time Magazines abgebildet. Sie wurde als die “einflussreichste Frau der USA neben Eleanor Roosevelt” beschrieben.
In Artikeln und Radiobeiträgen analysierte sie weiterhin die deutsche Politik, wies auf die Gefahren des Faschismus hin und brachte ihre Ablehnung gegen das Nazi-Regime zum Ausdruck.
Wie sehr sie die deutschen Machthaber damit verärgerte, verdeutlicht ein Tagebucheintrag von Joseph Goebbels 1942 über Thompson:
“Es ist beschämend und aufreizend, dass so dumme Frauenzimmer […] das Recht haben, gegen eine geschichtliche Größe wie den Führer überhaupt das Wort zu ergreifen.”
Sie war dreimal verheiratet, in zweiter Ehe mit dem Literaturnobelpreisträger Sinclair Lewis.
Dorothy Thompson starb am 30. Januar 1961 im Alter von 67 Jahren.
Obwohl sie - wie viele andere - Hitler unterschätzt hatte, war Dorothy Thompson eine der ersten und eindringlichsten Stimmen, die die Welt vor den Gefahren des Nationalsozialismus für Frieden und Demokratie warnten.
In diesem Video sind Ausschnitte eines Interviews mit Thompson zu sehen. In diesem Audio-Mitschnitt spricht sie auf Deutsch.
Frohe Pfingsten und bis bald!
Leo
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. Nach drei Fragen hatte sie Hitler schon 1931 durchschaut, Die Welt
2. Beim kleinen Mann in Berlin, FAZ
3. Dorothy Thompson – Ich traf Hitler!, SWR Kultur
Zeitsprung, #37
Danke Leo, für eine weitere interessante Geschichte und noch einen wunderschönen Pfingstmontag.
Danke (mal wieder) für den Nachhilfeunterricht in Geschichte. Spannend zu lesen und sehr lehrreich. Als Nachkriegskind hatte ich immer wieder versucht, auch von meinen Eltern etwas zur Einschätzung des frühen Adolf Hitlers zu erfahren - aber die Antworten waren nie befriedigend für mich. Solche Artikel wie dieser hier machen mir einiges klarer.