Andrée de Jongh war die Begründerin des “Komet”-Netzwerks. Das Netzwerk an Freiwilligen half 800 alliierten Soldaten während des Zweiten Weltkriegs dabei, über eine 1.300 Kilometer lange Route unbemerkt aus den besetzten westeuropäischen Gebieten nach Großbritannien zu fliehen. De Jongh wurde verraten und mehrere Jahre in KZs inhaftiert. Sie überlebte und behandelte später Lepra-Erkrankte in Afrika.
Südfrankreich, nahe der spanischen Grenze am 15. Januar 1943: In den frühen Morgenstunden hämmert es an der Tür des Bauernhauses, in dem sich Andrée de Jongh gemeinsam mit drei alliierten Soldaten versteckt.
Vor der Tür steht die Polizei, die die Gruppe festnimmt und den deutschen Besatzern übergibt. Niemand ahnt, dass die junge Belgierin unter ihnen der Kopf hinter dem erfolgreichsten Fluchtnetzwerk für alliierte Soldaten ist.
Andrée de Jongh wurde am 30. November 1916 in Schaerbeek bei Brüssel geboren. Im Mai 1940 griff die deutsche Wehrmacht das neutrale Belgien an. Wenige Wochen später kapitulierten die unterlegenen belgischen Streitkräfte.
Nachdem die britische Armee vergeblich versucht hatte, den deutschen Vormarsch in Westeuropa aufzuhalten, wurden die Truppen evakuiert.
Dies gelang jedoch nicht vollständig und so versteckte sich eine erhebliche Anzahl britischer Soldaten im besetzten Brüssel.
Dort begann Andrée de Jongh, als freiwillige Helferin beim Roten Kreuz zu arbeiten. Über ihre Arbeit kam sie in Kontakt mit den untergetauchten Soldaten. Sie beschloss, den deutschen Besatzern etwas entgegenzusetzen und begann, den Männern zu helfen. Es war der Anfang Andrées jahrelanger Arbeit im Widerstand.
Sie organisierte sichere Verstecke und besorgte zivile Kleidung sowie falsche Papiere für die Briten. Sie überlegte zudem, wie sie den Soldaten unbemerkt zur Rückkehr nach Großbritannien verhelfen konnte.
Andrée plante, die Soldaten in kleinen Gruppen von Brüssel Richtung Süden, durch das besetzte Frankreich und über die Pyrenäen ins neutrale Spanien zu führen. Von dort sollten die Männer über Gibraltar per Schiff oder Flugzeug zurück nach Großbritannien gelangen.
Im Sommer 1941 setzte de Jongh ihren Plan in die Tat um:
Unterstützt von diversen Helfenden, die entlang der rund 1.300 Kilometer langen Route Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung stellten, erreichte sie gemeinsam mit drei Soldaten Bilbao. Dort kontaktierte sie das britische Konsulat.
Die Geheimdienstmitarbeiter, denen sie ihre Reise schilderte, glaubten de Jongh anfangs nicht: Eine so lange und riskante Tour durch Feindesgebiet sei viel zu gefährlich für eine junge, unerfahrene Frau.
Andrée ließ sich davon nicht beirren — im Gegenteil: Sie kündigte an, weiteren Soldaten helfen zu wollen und ihre Tour zu wiederholen.
Sie bat die Briten lediglich darum, für die entstehenden Kosten aufzukommen, die Soldaten in Spanien in Empfang zu nehmen und anschließend sicher nach Großbritannien zu bringen.
In einer Phase des Krieges, in der immer mehr britische Soldaten mit ihren Fallschirmen aus abstürzenden Flugzeugen über den besetzten Gebieten absprangen, herrschte ein akuter Mangel an ausgebildeten Piloten und Funkern.
Obwohl der britische Geheimdienst de Jongh misstraute, stimmte er der Zusammenarbeit mit der jungen Belgierin schließlich zu.
In der Folge entwickelte sich die als “Komet”-Netzwerk bekannt gewordene Organisation zum größten und erfolgreichsten Fluchtnetzwerk für Soldaten in Westeuropa. Rund 3.000 Freiwillige unterstützten die geheimen Rettungsmissionen insgesamt.
Dabei setzten sie ihr Leben aufs Spiel: Hunderte Helferinnen und Helfer wurden verraten oder gefasst. 290 von ihnen wurden hingerichtet oder starben in Konzentrationslagern, darunter auch de Jonghs Vater, Frédéric.
Auf ihren 32 erfolgreichen Touren eskortierte Andrée de Jongh insgesamt 118 alliierte Soldaten nach Spanien.
Nach ihrer Verhaftung auf der 33. Tour im Januar 1943 wurde sie wiederholt verhört und gefoltert. Sie erklärte, die Begründerin des Netzwerks zu sein. Dass die Deutschen ihr — wie die Briten zuvor — nicht glaubten, rettete ihr wahrscheinlich das Leben.
Auch nach ihrer Verhaftung setzte das Komet-Netzwerk die Fluchthilfe fort. Insgesamt konnten so rund 800 alliierte Soldaten unentdeckt entkommen.
De Jongh verbrachte den Rest des Krieges in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Mauthausen. Sie überlebte und wurde im April 1945 von den Alliierten befreit.
Nach dem Krieg wurde sie für ihre Verdienste mehrfach ausgezeichnet. Dieses Video von 1946 zeigt die Verleihung der George-Medal an de Jongh.
Später behandelte sie als Krankenschwester Lepra-Erkrankte in verschiedenen afrikanischen Ländern.
Andrée de Jongh starb am 13. Oktober 2007 in Brüssel im Alter von 90 Jahren.
Der Bestseller-Roman “Die Nachtigall” von Kristin Hannah beruht auf der Geschichte von Andrée de Jongh.
Bis bald!
Leo
Mehr Fluchtgeschichte:
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. Andrée De Jongh and the Comet Line, BBC
2. Countess Andrée de Jongh, The Guardian
3. Ms Andrée de Jongh, History of Leprosy
Dies ist die 49. Ausgabe von Zeitsprung.
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