Die Niederländerin Marion Pritchard studierte, als die deutsche Wehrmacht ihre Heimat überfiel. Als sie erkannte, wie die Besatzer die jüdische Bevölkerung behandelten, beschloss sie, sich für ihre verfolgten Mitmenschen einzusetzen. Insgesamt rettete sie rund 150 Menschenleben.
Amsterdam, 1942: Auf dem Weg zur Universität fährt die Studentin Marion Pritchard an einem jüdischen Kinderheim vorbei. Sie sieht, wie die deutschen Besatzer kleine Kinder an Armen und Beinen greifen und auf die Ladefläche eines Lkw werfen.
Das Ereignis verdeutlicht, wie brutal die Deutschen mit der jüdischen Bevölkerung umgehen. Es ist der Beginn von Pritchards jahrelanger Hilfsarbeit.
Marion Pritchard wurde am 7. November 1920 als Marion von Binsbergen in Amsterdam geboren. Mehrere Jahre ihrer Schulzeit verbrachte sie auf einem englischen Internat. Später studierte sie Sozialarbeit in Amsterdam.
Im Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht die Niederlande. Nach wenigen Tagen kapitulierten die niederländischen Truppen. Es folgte eine jahrelange Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland.
1941 wurde Marion verhaftet, nachdem die Besatzer in dem Haus, in dem sie sich aufgehalten hatte, vervielfältigte Transkripte des “Feindsenders” BBC gefunden hatten. Obwohl sie nicht daran beteiligt war, wurde sie ein halbes Jahr lang inhaftiert.
Nach ihrer Freilassung erlebte sie im Frühling 1942 das Schlüsselerlebnis vor dem jüdischen Kinderheim, das sie dazu bewegte, ihren jüdischen Mitmenschen zu helfen:
“Ich war wie erstarrt und weinte. Zuvor hatte ich zwar von den Bedrohungen gewusst, aber ich hatte die Deutschen noch nicht in Aktion gesehen. Als ich das sah, beschloss ich, dass die Rettungsarbeit wichtiger war als alles andere, was ich tun konnte.”
Wenig später nahm sie ein jüdisches Baby bei sich auf. Der Junge blieb nicht das einzige Kleinkind, das sie gemeinsam mit weiteren Helfenden schützte:
Die Kinder blieben bei Marion, bis vertrauenswürdige Familien gefunden wurden, die die Kinder aufnehmen konnten. Um ihre Identität zu verbergen, gab Marion sie nicht selten als ihre eigenen, unehelichen Kinder aus.
Zusätzlich engagierte sie sich im niederländischen Widerstand. Sie half, Essensrationen, Kleidung und falsche Papiere für im Untergrund lebende Juden zu beschaffen.
Im Herbst 1942 begegnete sie Freddie Polak, der ein Versteck für sich und seine drei kleinen Kinder suchte. Marion zog gemeinsam mit den Kindern und ihrem Vater in eine Einliegerwohnung außerhalb von Amsterdam.
Wohnhäuser wurden regelmäßig von den Nazis durchsucht. Deshalb brachten sie den Kindern bei, bei verdächtigen Geräuschen in Sekundenschnelle zu verschwinden: Sie schoben dafür einen Tisch und einen Teppich zur Seite und zwängten sich in einen kleinen Unterschlupf unter den losen Dielen.
Eines Abends wurde die Wohnung von drei Deutschen und einem niederländischen Kollaborateur durchsucht. Die Kinder blieben unentdeckt.
Doch nur wenige Minuten später stand der Kollaborateur erneut vor der Tür. Überrascht von der schnellen Rückkehr, schafften sie es nicht, die Kinder rechtzeitig zu verstecken.
Weil Marion keinen anderen Ausweg mehr sah, um die Familie und sich zu schützen, griff sie zu ihrem Revolver und erschoss den Polizisten.
Die Familie Polak schaffte es, bis zum Kriegsende unentdeckt zu bleiben. Rund 150 Menschenleben rettete Marion Pritchard insgesamt mit ihrem Einsatz.
Nach dem Krieg arbeitete sie für die United Nations in Deutschland. Sie lernte den US-Offizier Anton Pritchard kennen. 1947 zogen sie in die USA, heirateten und wurden Eltern dreier Söhne.
Erst in den 1980er Jahren sprach Marion Pritchard erstmals öffentlich über ihre Rettungsarbeit. Auch ihre Söhne wussten lange Zeit nichts von der bewegten Vergangenheit ihrer Mutter. In diesem Interview von 1998 erzählt Pritchard von ihren Erfahrungen.
Marion Pritchard starb am 11. Dezember 2016 im Alter von 96 Jahren.
Bis bald!
Leo
Die wichtigsten für diesen Text verwendeten Quellen:
1. Marion Pritchard, who risked life to rescue Jews in ’40s, dies, SFGATE
2. Marion Pritchard, Dutch rescuer of Jewish children during the Holocaust, dies at 96, Washington Post
3. Marion Pritchard, Dutch savior, The International Raoul Wallenberg Foundation
Dies ist die 55. Ausgabe von Zeitsprung.
Immer wieder bin ich erstaunt, wie viele interessante Lebensgeschichten es gibt, von denen man noch nie gehört hat. Diese ist besonders bewegend. Vielen Dank für die gute Recherche
Herzlichen Dank für die immer sehr interessanten Bio's lieber Leo!