Hellé Nice trat als eine der ersten Frauen bei Autorennen gegen Männer an. Später zerstörten ein folgenreicher Unfall und falsche Beschuldigungen die Karriere der “Bugatti-Queen”, deren Leben jahrzehntelang in Vergessenheit geriet.
Der Große Preis von São Paolo, 1936: Die französische Rennfahrerin Hellé Nice, ein internationaler Star des Motorsports, liegt an dritter Stelle, dicht hinter dem Zweiten. Plötzlich fliegt ein Strohballen auf die Fahrbahn.
Nice weicht aus, verliert die Kontrolle über den Wagen und rast in eine Menschenmenge. Es ist der Anfang vom Ende der großen Karriere einer Pionierin der Rennfahrt.
Hellé Nice wurde am 15. Dezember 1900 als Mariette Hélène Delangle in der Nähe von Paris geboren. Mit 18 Jahren zog sie in die französische Hauptstadt. Dort lernte die junge Frau den Maler René Carrère kennen. Sie begann, für ihn als Aktmodell zu arbeiten.
Später ermutigte Carrère sie, Tanzunterricht zu nehmen. Wenig später trat sie leichtbekleidet in Pariser Burlesque-Shows auf.
Zu Beginn der 1920er Jahre begann der Motorrennsport in Europa Fuß zu fassen. Er entfachte eine Welle der Begeisterung, die auch die junge Mariette erfasste:
Mit 20 Jahren machte sie den Führerschein – als Frau damals eine Seltenheit. Von ihren Gagen als Tänzerin kaufte sich ihr erstes Auto.
Sie lernte mehrere Rennfahrer kennen und träumte davon, selbst bei Rennen an den Start zu gehen. 1921 reiste sie für ihr erstes Rennen nach England. Als Frau wurde ihr die Teilnahme jedoch untersagt.
Währenddessen nahm ihre Tanzkarriere weiter Fahrt auf. Regelmäßige Auftritte im Casino de Paris machten Hellé Nice, wie sie sich fortan nannte, zu einer bekannten Tänzerin.
1929 nahm ihr Leben eine unerwartete Wendung: Beim Versuch, einer Lawine zu entkommen, stürzte die passionierte Skifahrerin. Dabei verletzte sie sich so schwer am Knie, dass sie nicht mehr tanzen konnte.
Daraufhin fasste sie den Entschluss, einen neuen Anlauf im Motorsport zu wagen: Noch im selben Jahr nahm sie am ersten Grand Prix für Frauen teil — und gewann das Rennen auf Anhieb.
Schon am nächsten Tag kontaktierte Jean Bugatti, Sohn des Gründers des gleichnamigen Automobilherstellers, Hellé Nice. Er bot ihr an, als Fahrerin für das Unternehmerin zu arbeiten: Als eine der ersten Frauen überhaupt wurde sie professionelle Rennfahrerin.
In der Folge nahm sie in einem Bugatti T43 an diversen Rennen teil, von denen sie einige — auch gegen männliche Konkurrenten — gewinnen konnte.
Zu einer Zeit, in der die meisten Autos nicht schneller als 70 km/h fuhren, stellte die “Bugatti Queen”, wie die Medien sie nannten, mit 197,7 km/h einen beeindruckenden Geschwindigkeitsrekord auf.
Bei einer USA-Tour 1930 nahm sie an insgesamt 76 Rennveranstaltungen teil. Zu einem internationalen Star gereift, gewann sie Sponsoren wie Lucky Strike und Esso für sich.
Nach ihrer Rückkehr nach Europa fuhr sie zunächst weiter für Bugatti, bevor sie 1933 zu Alfa Romeo wechselte. Dieses kurze Video zeigt Hellé Nice auf der Strecke von Monza.
Autorennen in den 20er und 30er Jahren waren extrem gefährlich. Ohne Helme oder nennenswerte Schutzvorrichtungen an den Autos kam es regelmäßig zu tödlichen Unfällen — wie 1936 in São Paolo.
Sechs Menschen starben bei Nice’ Ausweichmanöver. Sie überlebte mit schweren Kopfverletzungen. Nach drei Tagen im Koma erwachte sie und es gelang ihr, sich zu erholen.
Als Reaktion auf den Unfall zogen sich jedoch einige Sponsoren zurück. Sie fand zudem keinen Automobilhersteller mehr, der mit ihr zusammenarbeiten wollte.
Während des Zweiten Weltkriegs fanden keine Rennen statt. 1949 wollte Hellé Nice bei der Rallye Monte Carlo, einer der ersten Nachkriegsveranstaltungen, an den Start gehen.
Kurz vor dem Event bezichtigte ihr Konkurrent Louis Chiron sie, während des Krieges für die Gestapo gearbeitet zu haben. Die Anschuldigungen, die sich später als haltlos erwiesen, genügten, um ihre Reputation dauerhaft zu ruinieren.
Nice verlor ihre letzten Sponsoren und wurde von diversen Rennveranstaltungen ausgeschlossen.
Ihr extravaganter, von Alkohol und Drogen geprägter Lebensstil hatte ihr gesamtes Vermögen aufgebraucht. Die letzten Jahrzehnte ihres Lebens verbrachte sie einsam und verarmt in Südfrankreich.
Hellé Nice starb am 1. Oktober 1984 in Nizza.
Während diverse Automobilhersteller ihre Modelle nach erfolgreichen Fahrern benannten, geriet Hellé Nice in Vergessenheit. Erst 2005 erschien eine Biografie über ihr bewegtes Leben.
Bis bald!
Leo
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. The incredible life story of the first Women's Grand Prix winner, BBC
2. Hellé Nice, l'incroyable destin d'une pilote automobile d'avant-garde, Radio France
3. Hellé Nice, Frauenleben Podcast
Zeitsprung, #43
Während viele Hersteller ihre Modelle nach Größen der Renngeschichte benannten, geriet Hellé Nice’ Geschichte in Vergessenheit.
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Chapeau
Interessant!