Was Erwin Jöris erlebt hat, ist kaum vorstellbar: Als Kommunist kam er unter den Nazis ins KZ, floh in die Sowjetunion, wurde an die Gestapo ausgeliefert, kämpfte fünf Jahre im Zweiten Weltkrieg und landete im sowjetischen Arbeitslager. Er überlebte — und wurde 101 Jahre alt.
Erwin Jöris wurde am 5. Oktober 1912 in Berlin geboren. Er stammte aus einer politisch aktiven Arbeiterfamilie. Sein Vater war zunächst Sozialdemokrat, später Mitglied in der KPD. Mit 15 Jahren begann Erwin eine Tischlerlehre, mit 16 trat er in die kommunistische Jugend und mit 20 in die KPD ein.
Die in der Weimarer Republik zunehmend zur Tagesordnung gehörenden, blutigen Straßenkämpfe zwischen Kommunisten, Nationalsozialisten und der Schutzpolizei erlebte er hautnah mit.
Im Saalbau Friedrichshain kam es während einer Versammlung im Januar 1931 zu einem Rededuell zwischen dem späteren NS-Propagandaminister Joseph Goebbels und dem späteren DDR-Staatschef Walter Ulbricht. Jöris war dabei, als sich die Versammlung zu einer Saalschlacht zwischen der SA und dem Rotfrontkämpferbund entwickelte.
Im August desselben Jahres entschied die KPD, den von der NSDAP und weiteren rechten Gruppierungen angestrengten Volksentscheid über die Auflösung des Preußischen Landtags zu unterstützen.
Dem Mann mit der humorvollen “Berliner Schnauze” und dem Hang zum selbstständigen Denken missfiel der eingeforderte blinde Gehorsam. Er entwickelte erste politische Zweifel, blieb jedoch KPD-Mitglied.
Nach der “Machtergreifung” durch die Nazis im Januar 1933 wurde Jöris erstmals verhaftet. Zusammen mit rund 600 weiteren politischen Gefangenen — darunter auch der spätere Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky — wurde er in das Konzentrationslager Sonnenburg bei Küstrin gebracht.
Nach der schriftlichen Versicherung, sich zukünftig nicht mehr an “staatsfeindlichen” Aktionen zu beteiligen, wurde er 1934 aus der Haft entlassen.
Auf Weisung der mittlerweile illegalen KPD reiste er mit gefälschtem Pass in die Sowjetunion. Er wurde kommunistisch geschult und arbeitete zeitweise in einem Kombinat.
Dort erlebte er die vollständige politische Ernüchterung: Der triste, von Ausbeutung geprägte Alltag der Arbeiter, die in prekären Verhältnissen lebten, entblößte seine Vorstellungen vom Sozialismus als realitätsfremde Illusionen.
Um seine Macht zu untermauern, veranlasste Josef Stalin in der Sowjetunion ab Mitte 1937 die “Großen Säuberungen”. Bis November 1938 wurden etwa 1,5 Millionen Menschen verhaftet. Die Hälfte von ihnen wurde ermordet.
Auch Erwin Jöris wurde verhaftet, jedoch später nach Deutschland abgeschoben. In Berlin wurde er von der Gestapo erneut festgenommen. Weil er als “vom Kommunismus geheilt” eingestuft wurde, wurde er wenig später entlassen.
Er wurde 1940 zum Kriegsdienst in der Wehrmacht eingezogen. Als Sanitätssoldat kam er zunächst in Frankreich und später in der Ukraine zum Einsatz.
Wenige Wochen vor Ende des Krieges kam Jöris im April 1945 südöstlich von Berlin in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Er hatte es einer Kriegsverletzung zu verdanken, dass er ein Jahr später heimkehren konnte.
Zurück in Berlin heiratete Jöris und begann, in der väterlichen Kohlenhandlung zu arbeiten. Aus seiner Ablehnung gegen das SED-Regime, das er als zu diktatorisch kritisierte, machte er keinen Hehl — was zu seiner erneuten Verhaftung führte:
Er wurde als “Verräter” denunziert und nach monatelanger Untersuchungshaft wegen “Spionage” und “Verrats von Antifaschisten” zu 25 Jahren Zwangsarbeit im berüchtigten Workuta-Arbeitslager verurteilt. Nördlich des Polarkreises musste er in Eiseskälte schwere körperliche Arbeit verrichten.
Nach Stalins Tod 1953 und Adenauers Verhandlungen mit der Sowjetunion über die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen konnte Erwin Jöris im Dezember 1955 nach Deutschland zurückkehren.
Nach Jahrzehnten der Verfolgung und Haft endete sein Leidensweg zwischen zwei totalitären Systemen. Gemeinsam mit seiner Ehefrau zog er nach Köln.
Bis ins hohe Alter erzählte er an Schulen von seinem bewegten Leben. 2004 veröffentlichte er seine Memoiren unter dem Titel “Ein Leben als Verfolgter unter Hitler und Stalin”.
Erwin Jöris starb am 17. November 2013 im Alter von 101 Jahren.
Dies ist die 40. Ausgabe von “Zeitsprung”. Vielen Dank für’s Lesen, Teilen und die vielen Kommentare und Nachrichten!
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Dieser Radio-Beitrag des SRF enthält diverse Audio-Mitschnitte von Erwin Jöris. Andreas Petersen hat Jöris’ Biografie unter dem Titel “Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren” veröffentlicht.
Bis bald!
Leo
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. Verfolgt unter Hitler und Stalin, BPB
2. Ein schier unglaubliches Leben, Deutschlandfunk Kultur
3. Gefangener unter Hitler und Stalin, SRF
Zeitsprung, #40
Lieber Leo,
danke für 40 interessante Biografien ganz unterschiedlicher Persönlichkeiten . Sie haben es verdient, noch einmal gewürdigt zu werden. Bewundernswert wieder der heutige Erwin Jöris, unbeugsam die Regime kritisierend obwohl er sich der Konsequenzen bewusst sein musste. Nun kennen wir einen Mann, der Dank Adenauer die Freiheit wieder erlangete.
Der größte Teil lebte und agierte in der nationalsozialistischen Zeit, auch während des zweiten Weltkriegs. Gibt es auch Menschen anderer Nationen zu anderen Zeiten, die ebenfalls Helden waren; wie beim
Volksaufstand in der DDR
oder, wieder zweiter Weltkrieg, bei der Belagerung Leningrads.
Ich bin gespannt und freue mich auf die Fortsetzung.
Herzlichst Anne
Lieber Leo,
herzlichen Glückwunsch zum 40. Jubiläum von Zeitsprung. Ich bewundere deine Arbeit sehr. Gerade vor dem Hintergrund der Ergebnisse der gestrigen Europawahl ist dein Newsletter eine Ermutigung, in schweren Zeiten kritisch, tapfer und standhaft zu sein. Vielen Dank für Deine Arbeit!
Herzlich, Paul