Im April 1939 reiste das amerikanische Ehepaar Eleanor und Gilbert Kraus von Philadelphia nach Deutschland. Im Gepäck hatten sie die benötigten Papiere, um 50 jüdischen Kindern die Einreise in die USA zu ermöglichen und sie somit vor der Verfolgung durch das NS-Regime zu schützen.
Eleanor und Gilbert Kraus heirateten 1924 in Philadelphia. Beide waren Nachfahren jüdischer Einwanderer in die USA. Eleanor hatte osteuropäische Vorfahren, Gilbert deutsche. Gilbert arbeitete als Rechtsanwalt. Das Ehepaar hatte zwei Kinder.
Besorgt beobachteten sie nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten die zunehmende Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Im Januar 1939 kam Gilberts Freund Louis Levine, Vorsitzender der jüdischen Organisation Brith Sholom, mit der Idee auf ihn zu, jüdischen Kindern zur Ausreise aus Deutschland in die USA zu verhelfen. Eleanor und Gilbert stimmten zu.
Einer Einwanderung in die USA in den 1930er Jahren standen hohe bürokratische Hürden im Weg. Die womöglich größte Hürde war die Beschaffung von eidesstattlichen Erklärungen von zwei US-Bürgern, die garantierten, für die Bewerber finanziell aufzukommen. Es konnte mitunter jahrelang dauern, alle benötigten Papiere zu erhalten.
Eleanor und Gilbert verbrachten die nächsten Monate mit der Beschaffung von Einreisedokumenten für insgesamt 50 Kinder. Mit der Unterstützung des US-Diplomaten George Messersmith konnten sie Visa auftreiben, die bereits erteilt, jedoch nicht in Anspruch genommen worden waren. Damit konnten sie die langen Wartezeiten auf die Visa-Ausstellungen umgehen.
Gilbert reiste mit den vollständigen Einreisepapieren am 7. April 1939 nach Deutschland. Begleitet wurde er von Dr. Robert Schless, einem befreundeten Kinderarzt, der fließend Deutsch sprach und bei der Auswahl geeigneter Kinder helfen sollte. Eleanor folgte den beiden wenig später.
In der US-Botschaft in Berlin erfuhren sie, dass in Wien, das nach dem “Anschluss“ Österreichs 1938 zu Deutschland gehörte, 200 geeignete Kinder warteten. Dort angekommen, begann der schwierigste Teil der Rettungsmission: die Auswahl der Kinder.
Mithilfe von ärztlichen Untersuchungen und psychologischen Tests wurden 50 Kinder – 25 Mädchen und 25 Jungen – im Alter von vier bis 14 Jahren ausgewählt, die eine Trennung von der Familie auf unbestimmte Zeit möglichst gut verkraften würden. Eleanor hielt in ihrem Tagebuch fest:
“Ein Kind von seiner Mutter wegzunehmen, schien das Schlimmste zu sein, was ein Mensch tun konnte. Und doch war es so, als wären wir in einem Rettungsboot in einer äußerst stürmischen See angekommen. Alle Eltern, die wir trafen, schienen zu sagen: ‘Hier. Ja. Mit Freuden. Nehmt mein Kind mit an ein sichereres Ufer.' “
Die ausgewählten Kinder waren unterschiedlichster Herkunft: Sie stammten aus Österreich, Polen, Rumänien und der Ukraine. Einige kamen aus armen Familien, andere aus der Mittelschicht. Bis auf wenige Ausnahmen kannten sich die Kinder vor der Abreise untereinander nicht.
Am 21. Mai 1939 fuhren Eleanor, Gilbert und Dr. Schless mit den Kindern nach Berlin, um die Visa in der US-Botschaft abzuholen. Von dort reisten sie weiter nach Hamburg, wo sie die “SS President Harding” bestiegen.
Elf Tage später erreichte das Schiff den Hafen von New York. Die Kinder wurden zunächst in einem Haus der Brith Sholom-Organisation untergebracht. Sie erhielten Englischunterricht, um sich möglichst schnell an ihr neues Zuhause zu gewöhnen. Später kamen sie in Pflegefamilien oder bei entfernten Verwandten unter. Auch Eleanor und Gilbert nahmen zwei Kinder bei sich auf.
Die Kinder kamen unterschiedlich gut zurecht: Einige gewöhnten sich schnell an ihr neues Umfeld, während andere unter starkem Heimweh litten. Jahre später konnten sie mit ihren Eltern teilweise wieder zusammengeführt werden. Der Großteil der Kinder blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA.
Die erfolgreiche Rettungsmission war eine der größten privaten Rettungsaktionen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Gilbert Kraus starb 1975, Eleanor 1989. Zu ihren Ehren wurde die Kraus Family Foundation ins Leben gerufen.
In der Doku “50 Kinder: Die Rettungsmission von Mr. & Mrs. Kraus” kommen einige Zeitzeugen zu Wort. Es ist auch ein gleichnamiges Buch erschienen. In diesem Video spricht der gerettete Fred Lifschutz über seine Erinnerungen.
Bis bald!
Leo
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Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. The Rescue Mission of Gilbert and Eleanor Kraus, United States Holocaust Memorial Museum
2. Ordinary People, Extraordinary Actions: The Rescue Mission of Mr. and Mrs. Kraus, Amarillo Public Library
3. 50 Small Victories in a Time of Unbearable Loss, New York Times
Zeitsprung, #23
Thema: Irrfahrt des Passagierschiffes St. Louis, dass am 13.05.1939 mit 937 Juden den Hamburger Hafen zu einer Transatlantikfahrt verließ.
Nachzulesen in Julian Barnes „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“, S. 213 - 222, Heyne Verlag. ISBN 3-453-06148-9