Operationen verliefen im 19. Jahrhundert oft tödlich. Verantwortlich dafür waren häufig nicht die Operationen an sich, sondern die Krankheiten, mit denen sich die Patienten im Anschluss infizierten. Der Chirurg Joseph Lister entwickelte ein antiseptisches Verfahren, um Wundinfektionen zu verhindern. Er rettete damit unzählige Leben und legte den Grundstein für moderne, sterile Operationsverfahren.
August 1865 in Glasgow: Der elfjährige James Greenlees wird mit einer offenen Unterschenkelfraktur ins Krankenhaus gebracht.
Es gibt keine wirksame Behandlungsmethode. Außerdem droht eine lebensgefährliche Wundinfektion. Deshalb führen solche Verletzungen meist zu einer Amputation.
Doch der diensthabende Chirurg, Joseph Lister, will das verhindern — und greift anstatt zur Knochensäge zu Karbolsäure:
Er wäscht die Wunde damit aus. Nachdem er den Knochen gerichtet hat, verbindet er die Verletzung mit in der Flüssigkeit getränktem Verbandsmaterial.
Auf Basis seiner neuesten theoretischen Erkenntnisse hofft er, mit der desinfizierenden Karbolsäure das Bein und das Leben des Jungen zu retten.
James Greenlees erholt sich tatsächlich: Einige Wochen später verlässt er das Krankenhaus gesund und munter.
Die Rettung des Jungen ist ein Meilenstein in der Medizin.
Joseph Lister wurde am 5. April 1827 in Essex als viertes von sieben Kindern einer Quäkerfamilie geboren. Mit 17 Jahren begann er ein Medizinstudium am University College London: Er wollte Chirurg werden.
Medizinische Hygienestandards, die in Krankenhäusern heute als selbstverständlich gelten, waren im 19. Jahrhundert nicht existent: Zwischen der Behandlung verschiedener Patienten wuschen sich die Ärzte weder die Hände, noch reinigten sie gebrauchte Instrumente oder wechselten blutverschmierte Kittel.
Sofern möglich, wurden operative Eingriffe vermieden. Sie waren für die Patienten, die meist nicht narkotisiert wurden, enorm schmerzhaft. Außerdem war das Risiko einer Wundinfektion nach dem Eingriff extrem hoch.
Es war nicht bekannt, wie die Infektionskrankheiten, die in den Krankenhäusern grassierten — darunter Sepsis, Gangrän und Erysipel — übertragen wurden. Weil es zudem kaum Behandlungsmöglichkeiten gab, verliefen viele Infektionen tödlich.
Rund die Hälfte der Patienten starben an einer Wundinfektion. Auch für die Operateure waren die Eingriffe gefährlich: Wer sich bei der Arbeit mit dem Skalpell verletzte, war dem Infektionsrisiko ebenfalls ausgesetzt.
Die meisten Chirurgen beschäftigten sich kaum mit Infektionskrankheiten. Sie glaubten, dass man daran nichts ändern könne – anders als Joseph Lister.
1852 erhielt er die Approbation als Chirurg. Auf Empfehlung eines Professors zog er nach Edinburgh. In der damaligen Hochburg der Chirurgie begann Lister, zu Entzündungen zu forschen.
Zu einer Zeit, in der Mikroskope in der Diagnostik noch keine anerkannten Instrumente waren, nutzte er die Vergrößerungsapparate, um Gewebeproben von Patienten zu untersuchen.
1859 trat Lister eine Professur in Glasgow an. Zwei Jahre später erhielt er eine Stelle als Chirurg am größten Krankenhaus der Stadt. Dort versuchte er, gegen die schlechten hygienischen Bedingungen vorzugehen.
Das Problem, das ihn unentwegt beschäftigte:
“Wenn ein Patient eine Verletzung erleidet, ohne dass dabei die Haut beschädigt wird, erholt er sich ohne schwere Krankheit wieder. Dagegen ist selbst bei geringfügigen Verletzungen immer mit den schwersten Komplikationen zu rechnen, wenn die Haut eine Wunde aufweist. Warum ist das so?”
Schließlich machte ihn ein Kollege auf die Arbeiten des französischen Mikrobiologen Louis Pasteur aufmerksam. Pasteur hatte mit verschiedenen Experimenten herausgefunden, dass in der Luft enthaltene Mikroorganismen, auch Keime genannt, für Fermentations- und Fäulnisprozesse verantwortlich waren.
Lister übersetzte Pasteurs Entdeckungen auf die Medizin und insbesondere die Heilung von Wunden: Er machte die Keime, die unweigerlich durch die Luft in Wunden gelangten, als Auslöser von Infektionen aus.
Deshalb begann er mit der Suche nach einem Weg, die Keime zu zerstören, bevor sie zu einer Wundinfektion führen konnten. Laut Pasteur war es möglich, Keime mithilfe eines Antiseptikums unschädlich zu machen.
Lister suchte daher nach einem Mittel, das desinfizierend wirkte, ohne dabei das Körpergewebe zu schädigen. Dabei stieß er auf Karbolsäure. Karbolsäure, heute bekannt als Phenol, wurde aus Steinkohlenteer gewonnen und vornehmlich zur Imprägnierung von Schiffsholz eingesetzt.
Im August 1865 testete er die antiseptische Wirkung von Karbolsäure erstmals erfolgreich am elfjährigen James Greenlees. Es dauerte jedoch mehrere Jahre, bis sich Listers Behandlungsmethode gegen seine Kritiker durchsetzte. 1867 zog er eine erste Bilanz:
“Seit die antiseptische Behandlung bei uns in vollem Schwung ist, haben meine Krankenstationen ihren Charakter vollständig verändert. Innerhalb der letzten neun Monate hat es keinen einzigen Fall von Blutvergiftung oder Hospitalgangrän mehr gegeben.”
Den zunächst auf die Wunde beschränkten Einsatz von Phenol erweiterte Lister systematisch: Die Ärzte und das Pflegepersonal wurden angewiesen, sich regelmäßig die Hände mit einer Phenollösung zu waschen und die Instrumente zu desinfizieren.
Mit Erfolg: Die Sterblichkeitsrate der Patienten im Glasgower Krankenhaus konnte mithilfe von Listers antiseptischer Behandlung von 45% auf 15% gesenkt werden. Damit legte Lister den Grundstein für die moderne, sterile Chirurgie.
1871 bat die britische Königin Victoria Joseph Lister um Hilfe. Erfolgreich entfernte er einen großen Abszess unter ihrem Arm. Die lebensrettende Operation machte ihn berühmt. Vor seinen Studenten scherzte er:
“Ich bin die einzige Person, die je auf die Königin eingestochen hat!”
Der zum Baron geadelte Joseph Lister starb am 10. Februar 1912 im Alter von 84 Jahren.
Dieses Buch beschreibt das Leben des Chirurgen Joseph Lister.
Bis bald!
Euer Leo
Die wichtigsten für diesen Text genutzten Quellen:
1. Der Horror der frühen Medizin, Lindsey Fitzharris
2. Seine Initiative rettete Tausenden das Leben, NZZ
3. The pioneering surgeons who cleaned up filthy hospitals, BBC
Dies ist die 70. Ausgabe von Zeitsprung.
Wieder großartig Leo. Listen, it was Lister :-)
In Europa, im Ungarisch-österreichischen Kaiserreich in Pest und Wien war in derselben Zeit Ignaz Semmelweis auf der Spur der mangelnden Hygiene. Man kann sagen, er erkannte und bekämpfte das Kindbettfieber, was auf mangelnde Hygiene der Ärzteschaft zurückging und mit sterbenden Müttern und Neugeborenen einherging. Gern nachlesen. Spannend.
Er wurde diffamiert, denn Mediziner waren, wie leider heute immer noch einige Dinosaurier, unantastbar. Er endete in der Psychiatrie. Seine Einweisung ist kryptisch, aber er muss viele „Kollegen“ gehabt haben, die ihn aus dem Weg haben wollten.
Herzlichen Glückwunsch, lieber Leonard, für die immer wieder höchst spannenden Geschichten. Und auf die 70.!!! Ausgabe.
Herzliche Grüße
Angelica