Der englische Börsenmakler Nicholas Winton reiste im Winter 1938 nach Prag. Das Leid tausender verfolgter Menschen in überfüllten Flüchtlingslagern brachte ihn dazu, eine einzigartige Rettungsaktion in die Wege zu leiten: Es gelang ihm, 669 Kinder nach England in Sicherheit zu bringen. Erst 50 Jahre später wurde die Geschichte bekannt. Eine Erinnerung anlässlich des zehnten Todestages des “britischen Schindlers”.
1988 im TV-Studio der BBC-Sendung “That’s Life”: Das Thema des Tages ist die Rettungsaktion von Nicholas Winton. 1939 organisierte er acht Transporte, mit denen 669 Kinder aus der Tschechoslowakei nach England gebracht wurden.
Winton sitzt als Gast im Publikum in der ersten Reihe. Was er nicht weiß: Die BBC hat Dutzende der geretteten, inzwischen erwachsenen Kinder ausfindig gemacht. Sie sitzen im Publikum um ihn herum.
Die Moderatorin fragt: “Gibt es heute Abend jemanden im Publikum, der sein Leben Nicholas Winton verdankt? Wenn ja, würden Sie bitte aufstehen?”
Ein Raunen geht durch den Saal, während Stühle knarren und Kleider rascheln.
Dann dreht sich der ältere Mann mit der Hornbrille und den weißen Haaren ungläubig um. Fast das gesamte Publikum hat sich erhoben.
Nicholas Winton wurde am 19. Mai 1909 in London geboren. Seine jüdischen Eltern waren zwei Jahre zuvor aus Deutschland ausgewandert. Sie hatten ihren Familiennamen von Wertheim zu Winton geändert und waren zum Christentum übergetreten.
Nicholas verließ die Schule ohne Abschluss. Er arbeitete bei verschiedenen Banken in London, Hamburg, Berlin und Paris, bevor er nach London zurückkehrte.
Im Winter 1938 plante er, einen Winterurlaub in der Schweiz zu verbringen. Doch sein Freund Martin Blake überzeugte ihn, stattdessen nach Prag zu kommen — eine folgenreiche Planänderung.
Im September 1938 besetzten die Nationalsozialisten das tschechoslowakische Sudetenland. In der Folge flohen tausende jüdische und politisch verfolgte Familien nach Prag.
In überfüllten und schlecht versorgten Flüchtlingslagern waren sie dem eisigen Winter nahezu schutzlos ausgesetzt.
Nicholas Winton war von den Zuständen erschüttert — und wollte helfen: Er schloss sich dem britischen Hilfskomitee an, dem auch sein Freund Martin Blake angehörte.
Um wenigstens die Kinder aus der verzweifelten Lage zu retten, fasste Winton einen Plan: Er erstellte eine Liste mit Namen von Familien, die bereit waren, ihre Kinder nach England zu schicken.
Denn in Folge der Reichspogromnacht im November 1938 hatte die britische Regierung ein Gesetz erlassen, das Flüchtlingskindern bis 17 Jahren die Einreise nach Großbritannien ermöglichte.
Doch die Hürden für eine Einreiseerlaubnis waren groß: Jedes Kind brauchte Pflegeeltern, bei dem es wohnen konnte. Außerdem mussten pro Kind 50 Pfund — heute entspräche diese Summe mehreren tausend Pfund — hinterlegt werden.
Mit der Namensliste im Gepäck kehrte Winton nach London zurück, um die Rettung möglichst vieler Kinder in die Wege zu leiten.
Ein Wettlauf gegen die Zeit begann: Tagsüber arbeitete der 29-Jährige als Börsenmakler, abends suchte er nach Menschen, die bereit waren, seine Rettungsaktion zu unterstützen.
Eine enorme Herausforderung, doch Nicholas Winton war überzeugt:
“Wenn etwas nicht gänzlich unmöglich ist, dann muss es einen Weg geben, es zu schaffen.”
Er sollte Recht behalten: Im März 1939 — inzwischen hatten deutsche Truppen auch das restliche Gebiet der Tschechoslowakei besetzt — verließ der erste Zug mit jüdischen Kindern Prag in Richtung England.
Bis zum August 1939 brachten acht Züge insgesamt 669 Kinder in Sicherheit. Für die Mädchen und Jungen, die jüngsten von ihnen kaum drei Jahre alt, war es eine Reise ins Ungewisse. Die meisten sahen ihre Eltern nie wieder.
Nach der mehrtägigen Fahrt wurden sie am Londoner Bahnhof Liverpool Street von ihren zukünftigen Pflegeeltern in Empfang genommen.
Für den 1. September — den Tag des deutschen Überfalls auf Polen — war die Abfahrt eines neunten Zuges geplant. Doch die deutschen Besatzer stoppten den Transport. Die 250 Kinder, die sich bereits im Zug befanden, überlebten den Holocaust nicht.
Während des Zweiten Weltkriegs diente Nicholas Winton in der Royal Air Force. Nach dem Krieg arbeitete er für die Internationale Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen und die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, die heutige Weltbank.
Über die Rettung der Kinder sprach er jahrzehntelang mit niemandem. Nicht einmal seiner Familie erzählte er davon. Erst in den 1980er Jahren stieß seine Frau zufällig auf das Notizbuch, in dem er die Namen der geretteten Kinder festgehalten hatte.
1988 traf Winton in der TV-Sendung “That’s Life” erstmals auf einige der Kinder, die er 50 Jahre zuvor gerettet hatte. Teile dieser bewegenden Begegnungen sind in diesem Video festgehalten:
Nach dem Bekanntwerden seiner Taten wurde Nicholas Winton als “britischer Schindler” gefeiert und vielfach geehrt. Er betonte stets, dass die Transporte ohne die Mithilfe vieler weiterer Freiwilliger nicht möglich gewesen wären.
Nicholas Winton starb am 1. Juli 2015. Er wurde 106 Jahre alt.
In diesen Aufzeichnungen erzählt Nicholas Winton von seiner Rettungsarbeit. Im letzten Jahr erschien der Film “One Life” mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle.
Bis bald!
Euer Leo
Die wichtigsten Quellen:
1. www.nicholaswinton.com
2. Sir Nicholas Winton obituary, The Guardian
3. Obituary: Nicholas Winton, BBC
Dies ist die 88. Ausgabe von Zeitsprung.
Ich kannte die Geschichte, bin aber einmal mehr tief bewegt mit Tränen in den Augen, nachdem ich das Video gesehen habe. Danke, lieber Leo, für deine Arbeit. - Yoschie
Habe es gleich mal an Freunde in London weitergeleitet. Ihr Vater war auch über Kindertransporte nach England gekommen.