Emily Anderson führte ein unbekanntes Doppelleben: Die Irin war nicht nur eine angesehene Sprachwissenschaftlerin. Sie war auch eine der erfolgreichsten Codebrecherinnen des 20. Jahrhunderts. Mit ihren Entschlüsselungen hatte sie erheblichen Einfluss auf den Verlauf des Zweiten Weltkriegs.
Oktober 1962: Zu Ehren der verstorbenen Emily Anderson findet eine Trauerfeier in einer Londoner Kirche statt. Die Holzbänke sind voll besetzt.
Mit den englischen Erstübersetzungen der Briefe von Mozart und Beethoven hat sich die Sprachwissenschaftlerin zu Lebzeiten einen Namen gemacht.
Davon abgesehen ist ihre berufliche Laufbahn als Beamtin wenig spektakulär verlaufen — scheinbar.
Denn nur wenige Anwesende wissen, dass Emily Anderson während des Zweiten Weltkriegs entscheidend zum Sieg der alliierten Truppen in Nordafrika beigetragen hat.
Emily Anderson wurde am 17. März 1891 in Galway in Irland geboren. Die Tochter eines Universitätsrektors wuchs in behüteten Verhältnissen auf.
Nachdem sie ihr Studium der Sprachwissenschaften mit Bestnoten beendet hatte, verbrachte sie einige Zeit in Deutschland. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 kehrte Emily nach Irland zurück.
Mit erst 26 Jahren erhielt sie eine Professur für Deutsch in ihrer Heimatstadt Galway.
Aufgrund ihrer hervorragenden Fremdsprachenkenntnisse — neben Englisch und Deutsch sprach sie Italienisch und Französisch — wurde der MI1(b) auf Emily aufmerksam.
Der MI1(b) war die Abteilung des britischen Geheimdienstes, die sich mit dem Abfangen und der Entschlüsselung von feindlicher Kommunikation befasste.
Sie nahm das Angebot an, bis zum Ende des Krieges in London für den MI1(b) zu arbeiten: Ihre Aufgabe bestand darin, die mithilfe von Codes – eine Kombination aus Ziffern und Buchstaben – verschlüsselten Nachrichten zu entschlüsseln und zu übersetzen.
Sie bewies ihr Talent eindrucksvoll: Als eine von vier Frauen erhielt Emily nach dem Ende des Kriegs 1918 das Angebot, weiterhin für den Geheimdienst zu arbeiten.
Sie erklärte, nur bleiben zu wollen, sofern sie das gleiche Gehalt sowie die gleichen Aufstiegsmöglichkeiten wie ihre männlichen Kollegen erhalten würde. Der Geheimdienst stimmte den damals ungewöhnlichen Bedingungen zu.
1923 übernahm Emily Anderson die Leitung des Italien-Ressorts. Sie wertete den Nachrichtenverkehr zwischen der italienischen Regierung und dem Militär aus und verfolgte den Aufstieg Benito Mussolinis zum faschistischen Diktator.
Ihre Freizeit widmete Anderson, die nie heiratete, einem weiteren Projekt, das ihre Fähigkeiten im Entschlüsseln von Nachrichten beanspruchte: Die englische Übersetzung der handschriftlichen Briefe von Wolfgang Amadeus Mozart an seine Familie.
Über die Briefe, deren Übersetzung sie 1938 erstmals veröffentlichte, sagte sie:
“Es gab seltsam verschachtelte Passagen, rückwärts geschriebene Wörter, umgedrehte Sätze und viele sind unordentlich geschrieben, gespickt mit Durchstreichungen und Tintenklecksen.”
Als sich im Sommer 1939 ein erneuter Krieg immer deutlicher abzeichnete, wurde Anderson von London nach Bletchley Park versetzt. Sie befasste sich mit der Entschlüsselung der italienischen Kommunikation zu Mussolinis Feldzügen in Afrika.
Besonders die Truppen in Libyen stellten nach der italienischen Kriegserklärung an Großbritannien im Juni 1940 eine ernste Gefahr für die Briten in Ägypten dar:
Britische Truppen bewachten den Suezkanal, der essenziell war, um Erdöl aus dem Nahen Osten nach Europa zu transportieren, ohne den gesamten afrikanischen Kontinent umfahren zu müssen.
Der Krieg erschwerte das Abfangen des verschlüsselten italienischen Nachrichtenverkehrs aus der Ferne zunehmend. Anderson schlug ihrem Vorgesetzten deshalb vor, sie nach Ägypten zu versetzen. Er stimmte zu und sie reiste nach Kairo.
Von welcher Bedeutung ihre Arbeit dort zwischen 1940 und 1943 war, unterstrich General Alan Cunningham später:
“Selten in der Geschichte des Krieges hat es einen Feldzug gegeben, bei dem die militärische Führung so kontinuierlich mit genauen Informationen über die Bewegungen und Stellungen des Feindes versorgt wurde.”
Den Briten gelang der Sieg über die Italiener, die an der Seite deutscher Truppen kämpften. Die erlangte Kontrolle über das Mittelmeer war ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Achsenmächte.
Anderson kehrte nach England zurück. 1951 wurde sie in den Ruhestand versetzt. Danach übersetzte sie die Briefe von Ludwig van Beethoven, die — ähnlich wie Mozarts Handschrift — kaum zu entziffern waren.
Für ihr Werk “Letters of Beethoven” (1961) verlieh ihr die Bundesrepublik Deutschland das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse.
Emily Anderson starb am 26. Oktober 1962 im Alter von 72 Jahren.
Erst Jahre nach ihrem Tod kam infolge der Freigabe bis dato geheimer Unterlagen Licht ins Dunkel einer Beamtenlaufbahn, die alles andere als unspektakulär verlaufen war.
2023 erschien ein Buch über Emily Andersons Leben.
Bis bald!
Euer Leo
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Die wichtigsten für diesen Text verwendeten Quellen:
1. Emily Anderson Codebreaking pioneer, BBC History Magazine
2. Uncovering the hidden history of codebreaker Emily Anderson, Physics World
3. The Enigmatic Emily Anderson, BBC
Dies ist die 61. Ausgabe von Zeitsprung.
Eine weitere großartige Biographie.
Danke, Leo, und lieben Gruß, Yoschie
Spannend wie immer! Danke Leo!